Amos Oz, Graham Swift
Der israelische Schriftsteller Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und wohnt heute in der israelischen Stadt Arad in der Negev-Wüste. Seine Großeltern flüchteten 1917 von Odessa nach Vilnius und wanderten 1933 von dort mit ihrem Sohn Jehuda Arie, Amos’ Vater, nach Palästina aus. Seine Mutter Fania Klausner, geb. Mußmann, kam 1934 als 21-Jährige nach Palästina. 1954 trat er nach dem Freitod seiner Mutter dem Kibbuz Chulda bei und nahm seinen jetzigen Namen Oz an (dt. „Kraft, Stärke“). Während seines Studiums der Literatur und Philosophie an der Hebräische Universität Jerusalem von 1960 bis 1963 veröffentlichte Oz seine ersten Kurzgeschichten in der Literaturzeitung Kesher (dt. „Knoten, Kontakt“). Oz ist seit 1967 ein prominenter Befürworter der „Zwei-Staaten-Lösung“ im Nahostkonflikt. Er nahm am Sechstagekrieg und am Jom-Kippur-Krieg teil und gründete in den 1970er Jahren mit anderen Peace Now, eine Organisation, die zur israelischen Friedensbewegung zählte. Von 1987 bis 2005 war Oz ordentlicher Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beerscheba. 1993 erhielt er dort den berühmten Agnon-Lehrstuhl für moderne hebräische Literatur. Oz hat eine Reihe von Romanen und Erzählungen, einige Essaybände und drei Kinderbücher verfasst, darüber hinaus zahlreiche in Zeitschriften erschienene Artikel und Essays. Seine Arbeiten wurden in über 30 Sprachen übersetzt und erschienen in 35 Ländern.
Aus: Eine wahre Geschichte über Liebe und Abenteuer (Übersetzt von Mirjam Pressler)
“Am Schabbat vormittag, hieß es, würden alle Delegierten der Vollversammlung an einem Ort namens Lake Success zusammenkommen und über unser Schicksal entscheiden: "Wem Leben und wem Untergang beschieden ist!" sagte Herr Abramsky. Frau Tosia Krochmal holte unterdessen die Verlängerungsschnur der elektrischen Nähmaschine aus der Puppenklinik ihres Mannes, damit die Lembergs ihr schweres schwarzes Rundfunkgerät hinaustragen und auf den Balkontisch stellen konnten. (Es war das einzige Radiogerät in der Amos-Straße, wenn nicht das einzige in ganz Kerem Avraham.) Dort, auf dem Balkon der Lembergs, würde man das Gerät auf volle Lautstärke drehen, und wir alle würden uns versammeln - bei den Lembergs, im Hof, auf der Straße, auf dem Balkon der Wohnung über ihnen und den Balkonen gegenüber, und so könnte die ganze Straße die "laufende Sendung" mithören (so nannte man damals auf hebräisch die Direktübertragung), damit wir erführen, wie die Entscheidung ausfiele und was die Zukunft für uns bereithielte ("wenn es nach diesem Schabbat überhaupt noch eine Zukunft gibt").
"Lake Success", sagte Vater, "bedeutet übersetzt 'See des Erfolgs', das heißt, es ist das Gegenteil von dem Tränenmeer, das für Bialik das Schicksal unseres Volkes symbolisiert. Und Eurer Hoheit", fügte er hinzu, "werden wir diesmal entschieden erlauben, an dem Ereignis teilzunehmen, im Rahmen der neuen Position von Eurer Hoheit als Zeitungsleser par excellence und als militärischer und politischer Kommentator."
Mutter sagte: "Ja, aber mit Pullover. Es ist schon kalt."
Doch am Schabbat morgen stellten wir fest, daß die schicksalsentscheidende Beratung, die in Lake Success für nachmittags anberaumt war, bei uns erst am Schabbatausgang beginnen würde, wegen des Zeitunterschieds zwischen New York und Jerusalem. Oder vielleicht auch, weil Jerusalem ein so entlegener Ort war, fernab der großen Welt, hinter den Bergen und in weiter Ferne, so daß alles, was in der großen Welt geschah, zu uns immer nur als schwacher Widerhall drang, als blasses Echo eines Echos, und selbst das immer mit erheblicher Verspätung. Die Abstimmung, so rechnete man bei uns aus, würde nach Jerusalemer Zeit erst sehr spät stattfinden, kurz vor Mitternacht, zu einer Uhrzeit, an der dieser Junge längst im Bett sein müsse, denn auch morgen müsse man ja aufstehen und zur Schule gehen.”
Amos Oz (Jerusalem, 4. Mai 1939)
Der englische Schriftsteller Graham Swift wurde am 4. Mai 1949 in London geboren. Swift studierte in Cambridge und York. Zentrale Themen seiner Werke sind Funktionen der Erinnerung und die Verknüpfung von persönlicher Erinnerung und Weltgeschichte. Viele seiner Romane handeln unmittelbar oder mittelbar vom Zweiten Weltkrieg. 1996 erhielt er für seinen Roman "Letzte Runde" den Booker-Preis.
Aus: Das helle Licht des Tages (Übersetzt von Barbara Rojahn-Deyk)
“Vor etwas über zwei Jahren. Noch Oktober, aber ein Tag wie heute, blau und klar und frisch. Rita machte meine Tür auf und sagte: »Mrs. Nash.«
Ich stand bereits und knöpfte mein Jackett zu. Den meisten von ihnen fehlt der Vergleich – es ist für sie das erstemal. Es dürfte so sein wie ein Besuch beim Arzt. Sie hatten etwas Schäbigeres erwartet, etwas Suspekteres, Beschämenderes. Die gepflegte Atmosphäre (Ritas Werk) überrascht und beruhigt sie. Und die Vase mit Blumen.
Weiße Chrysanthemen, wie ich mich erinnere.
»Bitte nehmen Sie Platz, Mrs. Nash.«
Ich könnte irgendein Rechtsanwalt in der Innenstadt sein. Füllfederhalter in der Hand. Arzt, Rechtsanwalt – Eheberater. Man muß von allen dreien ein bißchen sein.
Der übliche Blick, der besagt, daß sie all ihren Mut zusammengenommen hat, ihr Zögern unterdrückt hat, daß sie war, wo sie lieber nicht gewesen wäre.
»Mein Mann trifft sich mit einer anderen Frau.«
Es gibt nicht so viele Möglichkeiten, das zu sagen – aber man muß so aussehen, als hätte man es noch nicht auf alle nur erdenkliche Weise sagen hören. Jeder ist einzigartig: Nur er allein kommt mit dieser seltenen Krankheit zum Arzt.
»Verstehe. Tut mir leid. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder Tee?«
Ein Arzt – ein Spezialist. Man ist bereits dabei, die Symptome abzuschätzen. Jeden Augenblick kann es jetzt zu Tränen kommen, zu Flüchen, zu Wut- oder Verzweiflungsausbrüchen. Zu all dem gehört ein Text, bis zur Perfektion geprobt. Und irgendwann wird dann alles über Bord geworfen.
Etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: daß dies der schwierigste, der fesselndste – der dankbarste Teil meines Berufes sein würde. Dinge, die einem bei der Polizei nicht beigebracht worden sind.
Sie wollte weder Kaffee noch Tee. Aber Rita, das wußte ich, wartete draußen wie eine Krankenschwester in der Notaufnahme, die Ohren gespitzt, den Wasserkessel gefüllt, bereit, im Nu mit dem Tablett hereingestürzt zu kommen.
Und als ein spezieller Notnagel die Flasche Whisky in dem Schränkchen in der Ecke. Einzig und allein für die Klienten und niemanden sonst. Obwohl erstaunlich ist, wie oft sie sagen: »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«
Graham Swift (Londen, 4. Mai 1949)
Aus: Eine wahre Geschichte über Liebe und Abenteuer (Übersetzt von Mirjam Pressler)
“Am Schabbat vormittag, hieß es, würden alle Delegierten der Vollversammlung an einem Ort namens Lake Success zusammenkommen und über unser Schicksal entscheiden: "Wem Leben und wem Untergang beschieden ist!" sagte Herr Abramsky. Frau Tosia Krochmal holte unterdessen die Verlängerungsschnur der elektrischen Nähmaschine aus der Puppenklinik ihres Mannes, damit die Lembergs ihr schweres schwarzes Rundfunkgerät hinaustragen und auf den Balkontisch stellen konnten. (Es war das einzige Radiogerät in der Amos-Straße, wenn nicht das einzige in ganz Kerem Avraham.) Dort, auf dem Balkon der Lembergs, würde man das Gerät auf volle Lautstärke drehen, und wir alle würden uns versammeln - bei den Lembergs, im Hof, auf der Straße, auf dem Balkon der Wohnung über ihnen und den Balkonen gegenüber, und so könnte die ganze Straße die "laufende Sendung" mithören (so nannte man damals auf hebräisch die Direktübertragung), damit wir erführen, wie die Entscheidung ausfiele und was die Zukunft für uns bereithielte ("wenn es nach diesem Schabbat überhaupt noch eine Zukunft gibt").
"Lake Success", sagte Vater, "bedeutet übersetzt 'See des Erfolgs', das heißt, es ist das Gegenteil von dem Tränenmeer, das für Bialik das Schicksal unseres Volkes symbolisiert. Und Eurer Hoheit", fügte er hinzu, "werden wir diesmal entschieden erlauben, an dem Ereignis teilzunehmen, im Rahmen der neuen Position von Eurer Hoheit als Zeitungsleser par excellence und als militärischer und politischer Kommentator."
Mutter sagte: "Ja, aber mit Pullover. Es ist schon kalt."
Doch am Schabbat morgen stellten wir fest, daß die schicksalsentscheidende Beratung, die in Lake Success für nachmittags anberaumt war, bei uns erst am Schabbatausgang beginnen würde, wegen des Zeitunterschieds zwischen New York und Jerusalem. Oder vielleicht auch, weil Jerusalem ein so entlegener Ort war, fernab der großen Welt, hinter den Bergen und in weiter Ferne, so daß alles, was in der großen Welt geschah, zu uns immer nur als schwacher Widerhall drang, als blasses Echo eines Echos, und selbst das immer mit erheblicher Verspätung. Die Abstimmung, so rechnete man bei uns aus, würde nach Jerusalemer Zeit erst sehr spät stattfinden, kurz vor Mitternacht, zu einer Uhrzeit, an der dieser Junge längst im Bett sein müsse, denn auch morgen müsse man ja aufstehen und zur Schule gehen.”
Amos Oz (Jerusalem, 4. Mai 1939)
Der englische Schriftsteller Graham Swift wurde am 4. Mai 1949 in London geboren. Swift studierte in Cambridge und York. Zentrale Themen seiner Werke sind Funktionen der Erinnerung und die Verknüpfung von persönlicher Erinnerung und Weltgeschichte. Viele seiner Romane handeln unmittelbar oder mittelbar vom Zweiten Weltkrieg. 1996 erhielt er für seinen Roman "Letzte Runde" den Booker-Preis.
Aus: Das helle Licht des Tages (Übersetzt von Barbara Rojahn-Deyk)
“Vor etwas über zwei Jahren. Noch Oktober, aber ein Tag wie heute, blau und klar und frisch. Rita machte meine Tür auf und sagte: »Mrs. Nash.«
Ich stand bereits und knöpfte mein Jackett zu. Den meisten von ihnen fehlt der Vergleich – es ist für sie das erstemal. Es dürfte so sein wie ein Besuch beim Arzt. Sie hatten etwas Schäbigeres erwartet, etwas Suspekteres, Beschämenderes. Die gepflegte Atmosphäre (Ritas Werk) überrascht und beruhigt sie. Und die Vase mit Blumen.
Weiße Chrysanthemen, wie ich mich erinnere.
»Bitte nehmen Sie Platz, Mrs. Nash.«
Ich könnte irgendein Rechtsanwalt in der Innenstadt sein. Füllfederhalter in der Hand. Arzt, Rechtsanwalt – Eheberater. Man muß von allen dreien ein bißchen sein.
Der übliche Blick, der besagt, daß sie all ihren Mut zusammengenommen hat, ihr Zögern unterdrückt hat, daß sie war, wo sie lieber nicht gewesen wäre.
»Mein Mann trifft sich mit einer anderen Frau.«
Es gibt nicht so viele Möglichkeiten, das zu sagen – aber man muß so aussehen, als hätte man es noch nicht auf alle nur erdenkliche Weise sagen hören. Jeder ist einzigartig: Nur er allein kommt mit dieser seltenen Krankheit zum Arzt.
»Verstehe. Tut mir leid. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder Tee?«
Ein Arzt – ein Spezialist. Man ist bereits dabei, die Symptome abzuschätzen. Jeden Augenblick kann es jetzt zu Tränen kommen, zu Flüchen, zu Wut- oder Verzweiflungsausbrüchen. Zu all dem gehört ein Text, bis zur Perfektion geprobt. Und irgendwann wird dann alles über Bord geworfen.
Etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: daß dies der schwierigste, der fesselndste – der dankbarste Teil meines Berufes sein würde. Dinge, die einem bei der Polizei nicht beigebracht worden sind.
Sie wollte weder Kaffee noch Tee. Aber Rita, das wußte ich, wartete draußen wie eine Krankenschwester in der Notaufnahme, die Ohren gespitzt, den Wasserkessel gefüllt, bereit, im Nu mit dem Tablett hereingestürzt zu kommen.
Und als ein spezieller Notnagel die Flasche Whisky in dem Schränkchen in der Ecke. Einzig und allein für die Klienten und niemanden sonst. Obwohl erstaunlich ist, wie oft sie sagen: »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«
Graham Swift (Londen, 4. Mai 1949)
froumen - 4. Mai, 18:32