Willem Elsschot, Volker Braun
Der belgische, niederländischsprachige, Schriftsteller Willem Elsschot, Pseudonym für Alfons Jozef de Ridder, wurde am 7. Mai 1882 in Antwerpen geboren.Elsschot studierte in seiner belgischen Geburtsstadt auf Anraten seines älteren Bruders Wirtschaftswissenschaften. Danach arbeitete er in Paris, Rotterdam und Brüssel. In letzterer Stadt gründete er mit zwei Kumpanen die Revue Continentale Illustrée. Ab 1914 kehrte er nach Antwerpen zurück, wo er eine eigene Werbeagentur gründete. Elsschots Erfahrungen im Werbefach inspirierten ihn u.a. zu seinem Roman Lijmen (1924, vgl. dt. 'auf den Leim locken'), in dem die dubiosen Praktiken eines Werbekaufmanns aufs Korn genommen werden. Der Roman gilt mit seinem knappen, schonungslosen und an Zynismus grenzenden Stil als ein Höhepunkt der städtischen flämischen Romanliteratur. Er gehört zur Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit. Das Buch wurde zusammen mit dem Folgeroman Het been (dt. das Bein) 2000 von Robbe de Hert verfilmt. Neben zum Teil autobiographischen Romanen wie Villa des Roses (1913, dt. 1993) und Tsjip (1934) schrieb Elsschot auch zwei namhafte Novellen. Kaas (1933) erzählt die desillusionierende Geschichte eines kleinen Büroangestellten, Laarmans, der mit der Gründung eines Käsehandels gesellschaftlich emporsteigen will. Het dwaallicht (1946, dt. das Irrlicht) spielt im Antwerpener Hafenviertel. Die Ich-Figur geht mit drei Matrosen auf die Suche nach einem Mädchen. Außer seinen Prosawerken schrieb Elsschot ein Gedichtband Verzen van vroeger (1934, dt. Verse von früher), der in einem rebellischen und bitteren Ton u.a. Motive wie Mutter und Ehe behandelt. Elsschot ist einer der wenigen Klassiker der niederländischsprachigen Literatur, der sich sowohl bei Feinschmeckern als auch beim großen Publikum großer und andauernder Beliebtheit erfreut.
Aus: Käse (Übersetzt von Agnes Kalmann)
“In der Straßenbahn, auf dem Nachhauseweg, fühlte ich mich schon wie ein ganz anderer Mensch. Du weißt, dass ich auf die fünfzig zugehe, und dreißig Jahre Dienstbeflissenheit haben mir natürlich ihren Stempel aufgedrückt.
Büroschreiber sind bescheiden, viel bescheidener als Arbeiter, die sich durch Aufsässigkeit und ihre Einigkeit etwas Achtung ertrotzt haben. Man sagt sogar, dass sie in Russland die Herren geworden sind. Wenn es stimmt, haben sie es verdient, so finde ich. Sie scheinen es übrigens mit ihrem Blute erkauft zu haben. Doch Büroschreiber sind im Allgemeinen wenig spezialisiert und ähneln sich so sehr, dass sogar ein Mann mit langjähriger Erfahrung bei der erstbesten Gelegenheit einen Tritt in seinen fünfzigjährigen treuen Hintern kriegt und durch einen andern ersetzt wird, der genauso gut und billiger ist.
Da ich das weiß und Kinder habe, vermeide ich es sorgfältig, mit Unbekannten in Streit zu geraten, denn es können Freunde meines Chefs sein. Ich lasse mich also in der Straßenbahn herumschubsen und reagiere nicht allzu heftig, wenn mir jemand auf die Zehen tritt.
Aber an diesem Abend war mir alles egal. Der Käsetraum würde doch in Erfüllung gehen? Ich spürte, dass meine Augen bereits einen festeren Blick aussandten, und steckte die Hände mit einer Lässigkeit in die Hosentaschen, die mir eine halbe Stunde zuvor noch vollkommen fremd gewesen war.
Zu Hause angekommen, setzte ich mich ganz normal an den Tisch, speiste, ohne ein Wort über die neuen Möglichkeiten, die sich mir eröffneten, zu verlieren, und musste innerlich lachen, als ich sah, wie meine Frau mit ihrer gewohnten Sparsamkeit die Butter schmierte und das Brot schnitt. Nun ja, sie konnte nicht vermuten, dass sie morgen vielleicht die Frau eines Kaufmanns sein würde.
Ich aß wie immer, nicht mehr und nicht weniger, nicht hastiger und nicht langsamer. Mit einem Wort, ich aß wie einer, der sich damit abfindet, dass sich seine jahrelange Knechtschaft bei der General Marine and Shipbuilding Company um eine unbestimmte Anzahl von Jahren verlängern würde.
Und doch fragte meine Frau, was denn los sei.
»Was sollte denn los sein?«
Und dann begann ich, die Hausaufgaben meiner Kinder nachzusehen. Ich entdeckte einen groben Fehler in einem Partizip Perfekt und verbesserte ihn so schwungvoll und freundlich, dass mein Sohn überrascht aufblickte.
»Was schaust du so, Jan?«
»Ich weiß nicht.«
Willem Elsschot (7.Mai 1882 – 31. Mai 1960)
Der deutsche Lyriker und Schriftsteller Volker Braun wurde am 7. Mai 1939 in Dresden geboren. Seit 1960 Mitglied der SED, gelang es ihm nur unter Einsatz seines taktischen Geschicks, seine Prosa oder Gedichte zu veröffentlichen. Von 1965 bis 1967 arbeitet Braun auf Einladung Helene Weigels als Dramaturg am Berliner Ensemble. Nach den Ereignissen des Prager Frühlings beschäftigt er sich zunehmend kritisch mit dem Leben im Sozialismus und den Möglichkeiten der Reform. Danach wird er verstärkt von der Stasi überwacht. Seit 1972 arbeitet Braun am Deutschen Theater Berlin, 1976 gehört er zu den Mitunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns. Ab 1979 wieder am Berliner Ensemble tätig, 1982 verlässt er den Schriftstellerverband der DDR. Während der Existenz der DDR entstandene Werke geben das Bild eines zunehmend deprimierenden Lebens wieder. Die Akteure seiner Stücke bewegen sich resigniert in einem unbeweglichen Umfeld. Dennoch erhält er 1981 den Lessing-Preis der DDR und 1988 den Nationalpreis der DDR.
Während der Wende gehört Braun zu den Befürwortern eines eigenständigen „dritten Weges“ für die DDR. Nach der Wiedervereinigung beschäftigt sich Braun kritisch mit den Gründen für das Scheitern der DDR. 1986 wird Braun der Bremer Literaturpreis verliehen, 1992 wird er mit dem Schiller-Gedächtnispreis ausgezeichnet. 1993 erhält er ein Stipendium der Villa Massimo und ist 1994 Gast der Universität Wales. 1996 hält er Poetik-Vorlesungen an der Universität Heidelberg. Er erhält 1998 den Erwin-Strittmatter-Preis und 2000 den Büchner-Preis. Von 1999 bis 2000 hat er die Brüder Grimm-Professur an der Universität Kassel inne. 2006 wird er zum Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste (Berlin) gewählt.
O Chicago! O Widerspruch!
O CHICAGO! O WIDERSPRUCH!
Brecht, ist Ihnen die Zigarre ausgegangen?
Bei den Erdbeben, die wir hervorriefen
In den auf Sand gebauten Staaten.
Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt.
Ich kann ihn nicht an den Gedanken festhalten
Die ohnehin ausfallen. Die warmen Straßen
Des Oktobers sind die kalten Wege
Der Wirtschaft, Horatio. Ich schiebe den Gum in die Backe
Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte.
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text.
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Volker Braun (Dresden, 7. Mai 1939)
Aus: Käse (Übersetzt von Agnes Kalmann)
“In der Straßenbahn, auf dem Nachhauseweg, fühlte ich mich schon wie ein ganz anderer Mensch. Du weißt, dass ich auf die fünfzig zugehe, und dreißig Jahre Dienstbeflissenheit haben mir natürlich ihren Stempel aufgedrückt.
Büroschreiber sind bescheiden, viel bescheidener als Arbeiter, die sich durch Aufsässigkeit und ihre Einigkeit etwas Achtung ertrotzt haben. Man sagt sogar, dass sie in Russland die Herren geworden sind. Wenn es stimmt, haben sie es verdient, so finde ich. Sie scheinen es übrigens mit ihrem Blute erkauft zu haben. Doch Büroschreiber sind im Allgemeinen wenig spezialisiert und ähneln sich so sehr, dass sogar ein Mann mit langjähriger Erfahrung bei der erstbesten Gelegenheit einen Tritt in seinen fünfzigjährigen treuen Hintern kriegt und durch einen andern ersetzt wird, der genauso gut und billiger ist.
Da ich das weiß und Kinder habe, vermeide ich es sorgfältig, mit Unbekannten in Streit zu geraten, denn es können Freunde meines Chefs sein. Ich lasse mich also in der Straßenbahn herumschubsen und reagiere nicht allzu heftig, wenn mir jemand auf die Zehen tritt.
Aber an diesem Abend war mir alles egal. Der Käsetraum würde doch in Erfüllung gehen? Ich spürte, dass meine Augen bereits einen festeren Blick aussandten, und steckte die Hände mit einer Lässigkeit in die Hosentaschen, die mir eine halbe Stunde zuvor noch vollkommen fremd gewesen war.
Zu Hause angekommen, setzte ich mich ganz normal an den Tisch, speiste, ohne ein Wort über die neuen Möglichkeiten, die sich mir eröffneten, zu verlieren, und musste innerlich lachen, als ich sah, wie meine Frau mit ihrer gewohnten Sparsamkeit die Butter schmierte und das Brot schnitt. Nun ja, sie konnte nicht vermuten, dass sie morgen vielleicht die Frau eines Kaufmanns sein würde.
Ich aß wie immer, nicht mehr und nicht weniger, nicht hastiger und nicht langsamer. Mit einem Wort, ich aß wie einer, der sich damit abfindet, dass sich seine jahrelange Knechtschaft bei der General Marine and Shipbuilding Company um eine unbestimmte Anzahl von Jahren verlängern würde.
Und doch fragte meine Frau, was denn los sei.
»Was sollte denn los sein?«
Und dann begann ich, die Hausaufgaben meiner Kinder nachzusehen. Ich entdeckte einen groben Fehler in einem Partizip Perfekt und verbesserte ihn so schwungvoll und freundlich, dass mein Sohn überrascht aufblickte.
»Was schaust du so, Jan?«
»Ich weiß nicht.«
Willem Elsschot (7.Mai 1882 – 31. Mai 1960)
Der deutsche Lyriker und Schriftsteller Volker Braun wurde am 7. Mai 1939 in Dresden geboren. Seit 1960 Mitglied der SED, gelang es ihm nur unter Einsatz seines taktischen Geschicks, seine Prosa oder Gedichte zu veröffentlichen. Von 1965 bis 1967 arbeitet Braun auf Einladung Helene Weigels als Dramaturg am Berliner Ensemble. Nach den Ereignissen des Prager Frühlings beschäftigt er sich zunehmend kritisch mit dem Leben im Sozialismus und den Möglichkeiten der Reform. Danach wird er verstärkt von der Stasi überwacht. Seit 1972 arbeitet Braun am Deutschen Theater Berlin, 1976 gehört er zu den Mitunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns. Ab 1979 wieder am Berliner Ensemble tätig, 1982 verlässt er den Schriftstellerverband der DDR. Während der Existenz der DDR entstandene Werke geben das Bild eines zunehmend deprimierenden Lebens wieder. Die Akteure seiner Stücke bewegen sich resigniert in einem unbeweglichen Umfeld. Dennoch erhält er 1981 den Lessing-Preis der DDR und 1988 den Nationalpreis der DDR.
Während der Wende gehört Braun zu den Befürwortern eines eigenständigen „dritten Weges“ für die DDR. Nach der Wiedervereinigung beschäftigt sich Braun kritisch mit den Gründen für das Scheitern der DDR. 1986 wird Braun der Bremer Literaturpreis verliehen, 1992 wird er mit dem Schiller-Gedächtnispreis ausgezeichnet. 1993 erhält er ein Stipendium der Villa Massimo und ist 1994 Gast der Universität Wales. 1996 hält er Poetik-Vorlesungen an der Universität Heidelberg. Er erhält 1998 den Erwin-Strittmatter-Preis und 2000 den Büchner-Preis. Von 1999 bis 2000 hat er die Brüder Grimm-Professur an der Universität Kassel inne. 2006 wird er zum Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste (Berlin) gewählt.
O Chicago! O Widerspruch!
O CHICAGO! O WIDERSPRUCH!
Brecht, ist Ihnen die Zigarre ausgegangen?
Bei den Erdbeben, die wir hervorriefen
In den auf Sand gebauten Staaten.
Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt.
Ich kann ihn nicht an den Gedanken festhalten
Die ohnehin ausfallen. Die warmen Straßen
Des Oktobers sind die kalten Wege
Der Wirtschaft, Horatio. Ich schiebe den Gum in die Backe
Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte.
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text.
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Volker Braun (Dresden, 7. Mai 1939)
froumen - 7. Mai, 18:31