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Samstag, 27. Juni 2009

Rafael Chirbes, Marcus Jensen

Der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes wurde am 27. Juni 1949 in Tabernes de Valldigna bei Valencia geboren. In seinen Romanen setzt er sich mit der Franco-Ära auseinander. Er beschreibt eindrucksvoll die Stagnation während der mehr als eine Generation dauernden Diktatur, die kleinbürgerliche, phantasielose Enge. In seinem Roman Der lange Marsch wird - generationenübergreifend - vom Schicksal von sieben Familien in der Zeitspanne von 1940 bis 1970 erzählt. Erfolgreich war auch sein Roman Der Fall von Madrid, der nur an einem Tag spielt, dem 19. November 1975, dem Todestag Francos. Geschildert wird dieser Tag des Umbruchs im Leben mehrerer Personen: einer Unternehmerfamilie, Professoren, Arbeiter, Studenten, Oppositionelle usw. Die Darstellung der Charaktere und ihrer Beweggründe soll dabei nicht nur den Tag des Machtwechsels beschreiben, sie gibt auch einen Einblick in die spanische Gesellschaft der Gegenwart. Auch in seinem Roman Der Schuß des Jägers thematisiert er die Franco-Gesellschaft, indem er den Lebenslauf eines Mitläufers schildert.

Aus: Der lange Marsch (Übersetzt von Antje Kunstmann)

„Es war vier Uhr morgens an einem Tag im Februar. Trotz der geschlossenen Fensterläden war der Wildbach hinter dem Haus zu hören. Mehrere Tage hintereinander hatte es geschneit, dann war die Sonne durchgebrochen, danach hatte es geregnet, und jetzt führte der Bach viel Schmelzwasser und riß unter großem Getöse verdorrte Äste und Steine mit sich. Im Haus war eine besondere Aufregung zu spüren. Die Frauen kamen in die Küche und verließen sie mit dampfenden Töpfen, und im Kamin loderte ein mächtiges Feuer, das die Szene rötlich einfärbte, das Licht der Deckenlampe und auch der Lampe über dem Tisch übertönte, auf den, schweigsam und bewegungslos, ein gut dreißigjähriger
Mann die Ellbogen stützte. Um die Schultern hatte er eine gestreifte Decke gelegt. Er saß auf der langen Holzbank, die zwei der vier Wände des Raumes säumte und einen Winkel bildete, in den sich der Tisch einfügte. Zu seiner Rechten rauchte ein anderer Mann eine Zigarette. Er war doppelt so alt, beider Gesichter aber waren – abgesehen von den Unterschieden, die das Alter mit sich brachte – fast identisch: so nebeneinander gesehen, hätten die beiden als Modell dienen können für einen der im Barock so beliebten moralisierenden Stiche, auf denen mit den Lebensaltern das Vergehen der Zeit am Körper der Menschen symbolisch dargestellt wurde. Wo sich die Züge des Sohnes noch der
Linie des Kiefers und der Backenknochen anschlossen, verbreiterten sich die des Vaters, wurden in ihrer Zeich-nung verschwommen und dadurch eher formlos; auch die Nase des Vaters sah aus, als hätte die des Sohnes gewissermaßen an Halt verloren und wäre zusammensinkend in die Breite gegangen. Die rosig gesunde Farbe der Wangen des Jüngeren war auf dem Gesicht des Alten ins Purpurne übergegangen und wies, vor allem seitlich der stumpfen Nase, Flecken von geplatzten Äderchen auf.“





Chirbes
Rafael Chirbes (Tabernes de Valldigna, 27. Juni 1949)





Der deutsche Schriftsteller Marcus Jensen wurde am 27. Juni 1967 in Hamburg geboren. In den Jahren 1986/87 leistete er Grundwehrdienst in Appen bei Pinneberg. Von 1987 bis 1998 studierte er Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Politik an der Universität Hamburg (M.A.). Seit 1994 ist er mit seiner Lebensgefährtin Silke Andrea Schuemmer zusammen. 1999 Umzug nach Aachen, 1999 bis 2000 war er Mitarbeiter der Zentralen Studienberatung der Universität Köln. Seit 2002 lebt er in Berlin. Mitarbeiter der Zeitschrift Am Erker.

Glasstaub

Der Lastwagen nimmt den vollen Glascontainer auf seinen Haken, die oberste Lage Flaschen purzelt in die Schräge, die anderen fallen hinterher, vor Verzweiflung scheppern alle durcheinander, aber eine kurzhalsige Likörflasche ruft aus: "Keine Angst, keine Panik! Wir werden doch wiedergeboren!" Es gibt einen Ruck, der Lastwagen fährt los, dann tritt Stille ein. Die Likörflasche redet weiter: "Das müsst ihr positiv sehen! Ich zum Beispiel: Ganz früher war ich Pfand, ein Sklavendasein, danach wurde ich zu Einweg, Bier und Saft, schon besser, und meine zahllosen Wiedereinschmelzungen haben mich wunderschön gebräunt. Jetzt bin ich zwar eine nullsiebener Likör, aber in mir spüre ich auch noch eine schwarze Blumenvase, drei Glühbirnen und ein Marmeladentöpfchen!" Der Lastwagen legt sich in eine scharfe Kurve. Alle Flaschen applaudieren klirrend und fangen an zu singen: "Likör, Likör, wir glauben dir, gesichert sei nun unser Erbe, ein ganzes Glas in jeder Scherbe, welch Glück, welch Glück erwarten wir!" Der Lastwagen bremst. Ein gesprungener Aschenbecher kichert dazwischen: "Ach Quatsch. Wir werden alle puderfein zermahlen und kommen zur Straßenbaukolonne." Den mögen die anderen nicht."





Jensen
Marcus Jensen (Hamburg, 27 juni 1967)

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Zuletzt aktualisiert: 23. Jan, 19:14

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