Anna Enquist, Gottfried Keller
Die niederländische Schriftstellerin Anna Enquist wurde am 19. Juli 1945 in Amsterdam geboren. Anna Enquist wuchs in in der niederländischen Stadt Delft (Provinz Südholland) auf. Sie studierte Klavierspiel am Königlichen Konservatorium in Den Haag und anschließend klinische Psychologie in Leiden. Seit 1991 widmet sie sich ausschließlich ihrem schriftstellerischen Schaffen. Sie veröffentlichte Gedichte, Essays und Romane. Einige ihrer Romane wurden in bis zu fünfzehn Sprachen übersetzt. Vielfach wurde sie mit internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Der Roman "Letzte Reise", in dem sich Anna Enquist mit dem Leben der englischen Seefahrerlegende James Cook beschäftigt, ist in deutscher Übersetzung durch Hanni Ehlers erstmalig 2006 beim Verlag Luchterhand erschienen. In dem 2008 in Deutschland veröffentlichten Roman "Kontrapunkt" verarbeitet sie den tragischen Tod ihrer Tochter Margit, die 2001 im Alter von 27 Jahren bei einem Verkehrsunfall in Amsterdam ums Leben kam.
Aus: Letzte Reise (Übersetzt von Hanni Ehlers)
„Er erwartet einen leeren Tisch, wenn er zurückkommt, dachte sie. Er wird Koffer und Taschen voll Journale, Skizzen und Karten ins Haus tragen. Die müssen flach liegen, auf einem sauberen Tisch, gewachst und gewienert, daß er blinkt wie ein Teich. Ein Tisch, der dazu einlädt, Mappen darauf zu legen und Bücher und Papiere in vollkommenen Stapeln zu ordnen. Kein Müllabladeplatz. Das Gartenzimmer, in dem der Tisch steht, das fast ganz von dem Tisch ausgefüllt wird – nein, es ist Platz genug, es ist eher so, daß der Tisch Mittelpunkt dieses Zimmers ist, an ihm führt kein Weg vorbei, das Zimmer scheint um ihn herumgebaut zu sein, ein Tabernakel für einen hölzernen Altar –, muß saubergemacht und vielleicht geweißt werden.
Elizabeth schritt langsam am Tisch entlang zum Erker und schaute durch die kleinen Scheibenquadrate in den Garten hinaus. Durch die Unebenheiten im Glas sah es aus, als schwebten die Blumen über dem Gras; je nachdem, wie sie Kopf und Hals bewegte, stülpten sich die blaßblauen Irisblüten zu monströsen Gebilden aus, und die Gartenbank schoß auf und ab. Elizabeth stieß die Fenster auf; die weiß gestrichenen Leisten, in denen die Scheiben gefangen waren, sahen schmutzig aus. Mit dem Zeigefinger wischte sie eine tote Fliege weg.
Frühlingsluft kam herein. Elizabeth stemmte die Hände in die Seite und schnupperte. Weißdorn, Levkojen, die fad-süßlichen Ausdünstungen von der Ginfabrik um die Ecke. Bald würde die Linde über der Gartenbank zu blühen beginnen und Honig auf Möbel und Grasdecke tropfen. Dichte Wolken emsig summender Insekten würden sich um die hellgrünen Blüten drängen. Demnächst.
Sie wandte sich zu dem dunklen Zimmer um. Wie eine Bergkette ragte das Durcheinander auf dem Tisch vor ihr auf. Er kommt zurück, dachte sie, in einem Monat, im Sommer, vielleicht erst im Herbst, aber er kommt. Irgendwo auf der Welt ist er in dieser beengten hölzernen Hulk unterwegs, die er so stolz sein Schiff nennt. Die Entdeckungen sind gemacht, die Küsten kartiert, die fremden Völker beschrieben, und die Rückfahrt ist angetreten. Länger als drei Jahre kann so eine Reise nicht dauern. Höchste Zeit also, mit der Räumung des Tisches zu beginnen. Das wird sein, als trüge ich einen Schutthaufen ab, auf den jemand jahrelang sein Gerümpel geworfen hat. Eine archäologische Unternehmung, die ich als Herausforderung betrachten könnte.“

Anna Enquist (Amsterdam, 19. Juli 1945)
Der Schweizer Dichter Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Zürich geboren. Keller begann eine Künstlerlaufbahn als Landschaftsmaler, wandte sich im Vormärz zur politischen Lyrik und beschloss sein Leben als einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Von 1861 bis 1876 bekleidete er das Amt des Staatsschreibers der Republik Zürich. Seine bekanntesten Werke sind der Roman Der grüne Heinrich und der Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla. Keller gilt als Meister der Novellendichtung und als einer der bedeutendsten Erzähler des bürgerlichen Realismus.
Aus: Die Leute von Seldwyla
“Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Sie steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen wie vor dreihundert Jahren und ist also immer das gleiche Nest; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Umstand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie gelegen, mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen sind, so daß wohl die Sonne hereinkam, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen sich hinziehen, welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß die Gemeinde reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich leben. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten die Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst, und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die dortige Gemütlichkeit und meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in dieser Hantierung.
Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig Jahren, und diese sind es, welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen. Denn während dieses Alters üben sie das Geschäft, das Handwerk, den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, das heißt sie lassen, solange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs, der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit der Herren von Seldwyl bildet und mit einer ausgezeichneten Gegenseitigkeit und Verständnisinnigkeit gewahrt wird; aber wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend.“

Gottfried Keller (19. Juli 1819 – 15. Juli 1890)
Denkmal in Zürich
Der Roman "Letzte Reise", in dem sich Anna Enquist mit dem Leben der englischen Seefahrerlegende James Cook beschäftigt, ist in deutscher Übersetzung durch Hanni Ehlers erstmalig 2006 beim Verlag Luchterhand erschienen. In dem 2008 in Deutschland veröffentlichten Roman "Kontrapunkt" verarbeitet sie den tragischen Tod ihrer Tochter Margit, die 2001 im Alter von 27 Jahren bei einem Verkehrsunfall in Amsterdam ums Leben kam.
Aus: Letzte Reise (Übersetzt von Hanni Ehlers)
„Er erwartet einen leeren Tisch, wenn er zurückkommt, dachte sie. Er wird Koffer und Taschen voll Journale, Skizzen und Karten ins Haus tragen. Die müssen flach liegen, auf einem sauberen Tisch, gewachst und gewienert, daß er blinkt wie ein Teich. Ein Tisch, der dazu einlädt, Mappen darauf zu legen und Bücher und Papiere in vollkommenen Stapeln zu ordnen. Kein Müllabladeplatz. Das Gartenzimmer, in dem der Tisch steht, das fast ganz von dem Tisch ausgefüllt wird – nein, es ist Platz genug, es ist eher so, daß der Tisch Mittelpunkt dieses Zimmers ist, an ihm führt kein Weg vorbei, das Zimmer scheint um ihn herumgebaut zu sein, ein Tabernakel für einen hölzernen Altar –, muß saubergemacht und vielleicht geweißt werden.
Elizabeth schritt langsam am Tisch entlang zum Erker und schaute durch die kleinen Scheibenquadrate in den Garten hinaus. Durch die Unebenheiten im Glas sah es aus, als schwebten die Blumen über dem Gras; je nachdem, wie sie Kopf und Hals bewegte, stülpten sich die blaßblauen Irisblüten zu monströsen Gebilden aus, und die Gartenbank schoß auf und ab. Elizabeth stieß die Fenster auf; die weiß gestrichenen Leisten, in denen die Scheiben gefangen waren, sahen schmutzig aus. Mit dem Zeigefinger wischte sie eine tote Fliege weg.
Frühlingsluft kam herein. Elizabeth stemmte die Hände in die Seite und schnupperte. Weißdorn, Levkojen, die fad-süßlichen Ausdünstungen von der Ginfabrik um die Ecke. Bald würde die Linde über der Gartenbank zu blühen beginnen und Honig auf Möbel und Grasdecke tropfen. Dichte Wolken emsig summender Insekten würden sich um die hellgrünen Blüten drängen. Demnächst.
Sie wandte sich zu dem dunklen Zimmer um. Wie eine Bergkette ragte das Durcheinander auf dem Tisch vor ihr auf. Er kommt zurück, dachte sie, in einem Monat, im Sommer, vielleicht erst im Herbst, aber er kommt. Irgendwo auf der Welt ist er in dieser beengten hölzernen Hulk unterwegs, die er so stolz sein Schiff nennt. Die Entdeckungen sind gemacht, die Küsten kartiert, die fremden Völker beschrieben, und die Rückfahrt ist angetreten. Länger als drei Jahre kann so eine Reise nicht dauern. Höchste Zeit also, mit der Räumung des Tisches zu beginnen. Das wird sein, als trüge ich einen Schutthaufen ab, auf den jemand jahrelang sein Gerümpel geworfen hat. Eine archäologische Unternehmung, die ich als Herausforderung betrachten könnte.“

Anna Enquist (Amsterdam, 19. Juli 1945)
Der Schweizer Dichter Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Zürich geboren. Keller begann eine Künstlerlaufbahn als Landschaftsmaler, wandte sich im Vormärz zur politischen Lyrik und beschloss sein Leben als einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Von 1861 bis 1876 bekleidete er das Amt des Staatsschreibers der Republik Zürich. Seine bekanntesten Werke sind der Roman Der grüne Heinrich und der Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla. Keller gilt als Meister der Novellendichtung und als einer der bedeutendsten Erzähler des bürgerlichen Realismus.
Aus: Die Leute von Seldwyla
“Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Sie steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen wie vor dreihundert Jahren und ist also immer das gleiche Nest; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Umstand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie gelegen, mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen sind, so daß wohl die Sonne hereinkam, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen sich hinziehen, welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß die Gemeinde reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich leben. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten die Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst, und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die dortige Gemütlichkeit und meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in dieser Hantierung.
Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig Jahren, und diese sind es, welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen. Denn während dieses Alters üben sie das Geschäft, das Handwerk, den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, das heißt sie lassen, solange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs, der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit der Herren von Seldwyl bildet und mit einer ausgezeichneten Gegenseitigkeit und Verständnisinnigkeit gewahrt wird; aber wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend.“

Gottfried Keller (19. Juli 1819 – 15. Juli 1890)
Denkmal in Zürich
froumen - 19. Jul, 19:01