Antonio Tabucchi
Der italienische Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Antonio Tabucchi wurde am 23. September 1943 in Vecchiano bei Pisa geboren. Tabucchi studierte Geisteswissenschaften in Paris und Pisa. An der Universität Genua wurde er Professor für die portugiesische Sprache und Literatur. Sein Werk Erklärt Pereira (Sostiene Pereira, 1994), das in der Zeit der Salazar-Diktatur spielt, machte ihn bekannt und gilt bis heute als seine wichtigste Arbeit. Es wurde 1995 von Roberto Faenza mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt.
In seinen Erzählungen findet man zahlreiche Anspielungen und Zitate, die auf berühmte literarische und philosophische Vorbilder, besonders aber auch auf Kunstwerke, hinweisen. So begleiten Gemälde, Fotos, Skulpturen, Filme, und manchmal sogar Lieder den Leser durch die Geschichten. Antonio Tabucchi lebt in der Toskana und in Portugal. Er kommentierte die italienische Übersetzung des Werkes des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa und gab sie heraus. Eines seiner Bücher, Lissabonner Requiem, schrieb er auf portugiesisch (ins Italienische ließ er es übersetzen, damit er nicht der Versuchung erläge, den Text zu verändern). Insofern ist auch in seinem „wirklichen“ Leben die doppelte Identität sehr wichtig. Tabucchi hat 1994 den Premio Campiello und 1998 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur gewonnen.
Aus: Lissabonner Requiem (Übersetzt von Karin Fleischanderl)
„Ich dachte: Der Typ kommt nicht mehr. Und dann dachte ich: Ich kann ihn doch nicht »Typ« nennen, er ist ein großer Dichter, vielleicht der größte Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, inzwischen ist er seit vielen Jahren tot, ich muß ihn mit Respekt behandeln, besser gesagt, mit höchstem Respekt. Aber so allmählich war ich doch etwas verdrossen, die Sonne brannte, die Spätjuli-Sonne, und ich dachte noch: Ich bin im Urlaub, dort in Azeitäo, im Landhaus meiner Freunde, ging es mir so gut, warum habe ich mich bloß auf dieses Treffen hier an der Mole eingelassen, das Ganze ist doch absurd. Und ich betrachtete meinen Schatten unter mir, und auch er erschien mir absurd und überflüssig, sinnlos, es war ein kurzer Schatten, der von der Mittagssonne flachgedrückt wurde, und da erinnerte ich mich: Er hatte zwölf gesagt, aber vielleicht hatte er zwölf Uhr Mitternacht gemeint, Geister erscheinen immerhin
um Mitternacht. Ich stand auf und ging über die Mole. Auf der Straße war fast kein Verkehr, nur wenige Autos fuhren vorüber, einige davon mit Sonnenschirmen auf dem Gepäckträger, lauter Leute, die zu den Stränden in Caparica unterwegs waren, es war ein glühendheißer Tag, ich dachte: Was mache ich hier, am letzten Sonntag im Juli?
Und ich ging schneller, um so rasch wie möglich in Santos zu sein, vielleicht war es im Park ein wenig kühler. Der Park war menschenleer, nur der Zeitungsverkäufer stand vor seinem Kiosk. Ich ging zu ihm hin, und der Mann lächelte. Benfica hat gewonnen, sagte er strahlend, haben Sie es in der Zeitung gelesen? Ich schüttelte den Kopf, nein, ich hatte es noch nicht gelesen, und der Mann
sagte: Ein Nacht-Match in Spanien, ein Benefizspiel. Ich kaufte A Bola und suchte mir eine Bank, um mich zu setzen.
Ich las gerade, wie es dazu gekommen war, daß Benfica das entscheidende Tor gegen Real Madrid geschossen hatte, als jemand guten Tag sagte, und ich hob den Kopf. Guten Tag, wiederholte der Junge mit dem Bart, der vor mir stand, ich bräuchte Ihre Hilfe. Hilfe wozu, erkundigte ich mich. Hilfe, um zu essen, sagte der Junge, ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen. Es war ein ungefähr zwanzigjähriger Junge in Jeans und Hemd, der mir schüchtern die Hand hinhielt, als bettelte er um Almosen. • Er war blond und hatte große Ringe unter den Augen. Seit zwei Tagen hast du dir keinen Schuß gesetzt, sagte ich aus einer Eingebung heraus, und der Junge erwiderte: Das ist dasselbe, es
ist wie essen, zumindest für mich. Im Prinzip bin ich für alle Drogen, sagte ich, leichte wie schwere, aber nur im Prinzip, in der Praxis bin ich dagegen, entschuldigen Sie, ich bin ein bürgerlicher Intellektueller voller Vorurteile, ich akzeptiere nicht, daß Sie in diesem Park Drogen nehmen
und Ihren Körper auf erbärmliche Weise zur Schau stellen, entschuldigen Sie, aber das ist gegen meine Prinzipien, ich könnte gerade noch tolerieren, daß Sie zu Hause Drogen nehmen, in Gesellschaft gebildeter und intelligenter Freunde, und dabei Mozart oder Erik Satie hören.“

Antonio Tabucchi (Pisa, 23. September 1943)
In seinen Erzählungen findet man zahlreiche Anspielungen und Zitate, die auf berühmte literarische und philosophische Vorbilder, besonders aber auch auf Kunstwerke, hinweisen. So begleiten Gemälde, Fotos, Skulpturen, Filme, und manchmal sogar Lieder den Leser durch die Geschichten. Antonio Tabucchi lebt in der Toskana und in Portugal. Er kommentierte die italienische Übersetzung des Werkes des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa und gab sie heraus. Eines seiner Bücher, Lissabonner Requiem, schrieb er auf portugiesisch (ins Italienische ließ er es übersetzen, damit er nicht der Versuchung erläge, den Text zu verändern). Insofern ist auch in seinem „wirklichen“ Leben die doppelte Identität sehr wichtig. Tabucchi hat 1994 den Premio Campiello und 1998 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur gewonnen.
Aus: Lissabonner Requiem (Übersetzt von Karin Fleischanderl)
„Ich dachte: Der Typ kommt nicht mehr. Und dann dachte ich: Ich kann ihn doch nicht »Typ« nennen, er ist ein großer Dichter, vielleicht der größte Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, inzwischen ist er seit vielen Jahren tot, ich muß ihn mit Respekt behandeln, besser gesagt, mit höchstem Respekt. Aber so allmählich war ich doch etwas verdrossen, die Sonne brannte, die Spätjuli-Sonne, und ich dachte noch: Ich bin im Urlaub, dort in Azeitäo, im Landhaus meiner Freunde, ging es mir so gut, warum habe ich mich bloß auf dieses Treffen hier an der Mole eingelassen, das Ganze ist doch absurd. Und ich betrachtete meinen Schatten unter mir, und auch er erschien mir absurd und überflüssig, sinnlos, es war ein kurzer Schatten, der von der Mittagssonne flachgedrückt wurde, und da erinnerte ich mich: Er hatte zwölf gesagt, aber vielleicht hatte er zwölf Uhr Mitternacht gemeint, Geister erscheinen immerhin
um Mitternacht. Ich stand auf und ging über die Mole. Auf der Straße war fast kein Verkehr, nur wenige Autos fuhren vorüber, einige davon mit Sonnenschirmen auf dem Gepäckträger, lauter Leute, die zu den Stränden in Caparica unterwegs waren, es war ein glühendheißer Tag, ich dachte: Was mache ich hier, am letzten Sonntag im Juli?
Und ich ging schneller, um so rasch wie möglich in Santos zu sein, vielleicht war es im Park ein wenig kühler. Der Park war menschenleer, nur der Zeitungsverkäufer stand vor seinem Kiosk. Ich ging zu ihm hin, und der Mann lächelte. Benfica hat gewonnen, sagte er strahlend, haben Sie es in der Zeitung gelesen? Ich schüttelte den Kopf, nein, ich hatte es noch nicht gelesen, und der Mann
sagte: Ein Nacht-Match in Spanien, ein Benefizspiel. Ich kaufte A Bola und suchte mir eine Bank, um mich zu setzen.
Ich las gerade, wie es dazu gekommen war, daß Benfica das entscheidende Tor gegen Real Madrid geschossen hatte, als jemand guten Tag sagte, und ich hob den Kopf. Guten Tag, wiederholte der Junge mit dem Bart, der vor mir stand, ich bräuchte Ihre Hilfe. Hilfe wozu, erkundigte ich mich. Hilfe, um zu essen, sagte der Junge, ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen. Es war ein ungefähr zwanzigjähriger Junge in Jeans und Hemd, der mir schüchtern die Hand hinhielt, als bettelte er um Almosen. • Er war blond und hatte große Ringe unter den Augen. Seit zwei Tagen hast du dir keinen Schuß gesetzt, sagte ich aus einer Eingebung heraus, und der Junge erwiderte: Das ist dasselbe, es
ist wie essen, zumindest für mich. Im Prinzip bin ich für alle Drogen, sagte ich, leichte wie schwere, aber nur im Prinzip, in der Praxis bin ich dagegen, entschuldigen Sie, ich bin ein bürgerlicher Intellektueller voller Vorurteile, ich akzeptiere nicht, daß Sie in diesem Park Drogen nehmen
und Ihren Körper auf erbärmliche Weise zur Schau stellen, entschuldigen Sie, aber das ist gegen meine Prinzipien, ich könnte gerade noch tolerieren, daß Sie zu Hause Drogen nehmen, in Gesellschaft gebildeter und intelligenter Freunde, und dabei Mozart oder Erik Satie hören.“

Antonio Tabucchi (Pisa, 23. September 1943)
froumen - 23. Sep, 18:14