Thomas Mann
Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann wurde am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Bereits in seiner ersten Veröffentlichung, der Novellensammlung Der kleine Herr Friedemann, ist Manns identifizierend-distanzierter Umgang mit seinen Erzählerfiguren zu bemerken. Um das Spannungsverhältnis von Individuum und Bürgertum geht es auch in Manns erstem Roman, den Buddenbrooks (1901). Erzählt wird die stark autobiographisch geprägte Geschichte einer Lübecker Kaufmannsfamilie und deren über vier Generation beschriebenen Verfall. Die Figuren des Romans – allen voran Thomas Buddenbrook und seine Schwester Tony – haben sich den Normen des bürgerlichen Erfolgs verschrieben und unterdrücken dafür ihre persönlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse. Obwohl Mann sich unsterblich in den Maler Paul Ehrenberg verliebt und sogar an Selbstmord denkt, heiratet er im Februar 1905 die aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammende Katia Pringsheim. Das Paar bekommt sechs Kinder: Erika Mann (1905-1969) wird Schauspielerin, Schriftstellerin und Nachlassverwalterin ihres Vaters; Klaus Mann (1906-1949) lebt offen homosexuell und wird ebenfalls Schriftsteller; Golo (1909-1994), Monika (1916-1992), Elisabeth (1918-2002) und Michael (1919-1977) sind allesamt künstlerisch aktiv oder schlagen akademische Laufbahnen ein. Die Ehe zwischen Thomas und Katia Mann hält bis zu seinem Tod und ermöglicht dem Schriftsteller ein scheinbar normales bürgerliches Leben. Die Ehe zwischen Thomas und Katia Mann hält bis zu seinem Tod und ermöglicht dem Schriftsteller ein scheinbar normales bürgerliches Leben. Zwiespältig ist wiederum die Hauptfigur in Manns nächster Arbeit, seiner wohl berühmtesten Novelle Der Tod in Venedig (1912). Hauptfigur ist Gustav von Aschenbach, der sich während seines Urlaubs in Venedig in den 14-jährigen Tadzio verliebt. Aschenbach beobachtet den Knaben nur aus der Distanz, verliert aber völlig die Kontrolle über sein bis dahin rationales Selbst und gibt sich zunehmend zügellos seinen Gefühlen hin. Aschenbach zahlt seinen Ich-Verlust – vordergründig dargestellt durch eine Cholera-Infektion – mit dem Tod.
Aus: Der Tod in Venedig
“Es war eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer Erzieherin oder Gesellschafterin um ein Rohrtischchen versammelt: drei junge Mädchen, fünfzehn-bis siebzehnjährig, wie es schien, und ein langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz,--bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem
Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig-persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte. Was ferner auffiel, war ein offenbar grundsätzlicher Kontrast zwischen den erzieherischen Gesichtspunkten, nach denen die Geschwister gekleidet und allgemein gehalten schienen. Die Herrichtung der drei Mädchen, von denen die Älteste für erwachsen gelten konnte, war bis zum Entstellenden herb und keusch. Eine gleichmäßig klösterliche Tracht, schieferfarben, halblang, nüchtern und gewollt unkleidsam von Schnitt, mit weißen Fallkrägen als einziger Aufhellung, unterdrückte und verhinderte jede Gefälligkeit der Gestalt. Das glatt und fest an den Kopf geklebte Haar ließ die Gesichter nonnenhaft leer und nichtssagend erscheinen. Gewiß, es war eine Mutter, die hier waltete, und sie dachte nicht einmal daran, auch auf den Knaben die pädagogische Strenge anzuwenden, die ihr den Mädchen gegenüber geboten schien. Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine Existenz. Man hatte sich gehütet, die Scheere an sein schönes Haar zu
legen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die Ohren und tiefer noch in den Nacken. Ein englisches Matrosenkostüm, dessen bauschige Ärmel sich nach unten verengerten und die feinen Gelenke seiner noch kindlichen, aber schmalen Hände knapp umspannten, verlieh mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes. Er saß, im Halbprofil gegen den Betrachtenden, einen Fuß im schwarzen Lackschuh vor den andern
gestellt, einen Ellenbogen auf die Armlehne seines Korbsessels gestützt, die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt, in einer Haltung von lässigem Anstand und ganz ohne die fast untergeordnete Steifheit, an die seine weiblichen Geschwister gewöhnt schienen. War er leidend? Denn die Haut seines Gesichtes stach weiß wie Elfenbein gegen das goldige Dunkel der umrahmenden Locken ab. Oder war er einfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer Liebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren, Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen.“
Thomas Mann (6. Juni 1875 – 12. August 1955)
Porträt von Dieter van Offern
Thomas Manns letzte Villa in Kilchberg in der Schweiz. Sein Sohn Golo Mann hat hier noch bis zu senem eigenen Tode im Jahre 1994 gewohnt.
Aus: Der Tod in Venedig
“Es war eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer Erzieherin oder Gesellschafterin um ein Rohrtischchen versammelt: drei junge Mädchen, fünfzehn-bis siebzehnjährig, wie es schien, und ein langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz,--bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem
Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig-persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte. Was ferner auffiel, war ein offenbar grundsätzlicher Kontrast zwischen den erzieherischen Gesichtspunkten, nach denen die Geschwister gekleidet und allgemein gehalten schienen. Die Herrichtung der drei Mädchen, von denen die Älteste für erwachsen gelten konnte, war bis zum Entstellenden herb und keusch. Eine gleichmäßig klösterliche Tracht, schieferfarben, halblang, nüchtern und gewollt unkleidsam von Schnitt, mit weißen Fallkrägen als einziger Aufhellung, unterdrückte und verhinderte jede Gefälligkeit der Gestalt. Das glatt und fest an den Kopf geklebte Haar ließ die Gesichter nonnenhaft leer und nichtssagend erscheinen. Gewiß, es war eine Mutter, die hier waltete, und sie dachte nicht einmal daran, auch auf den Knaben die pädagogische Strenge anzuwenden, die ihr den Mädchen gegenüber geboten schien. Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine Existenz. Man hatte sich gehütet, die Scheere an sein schönes Haar zu
legen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die Ohren und tiefer noch in den Nacken. Ein englisches Matrosenkostüm, dessen bauschige Ärmel sich nach unten verengerten und die feinen Gelenke seiner noch kindlichen, aber schmalen Hände knapp umspannten, verlieh mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes. Er saß, im Halbprofil gegen den Betrachtenden, einen Fuß im schwarzen Lackschuh vor den andern
gestellt, einen Ellenbogen auf die Armlehne seines Korbsessels gestützt, die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt, in einer Haltung von lässigem Anstand und ganz ohne die fast untergeordnete Steifheit, an die seine weiblichen Geschwister gewöhnt schienen. War er leidend? Denn die Haut seines Gesichtes stach weiß wie Elfenbein gegen das goldige Dunkel der umrahmenden Locken ab. Oder war er einfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer Liebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren, Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen.“
Thomas Mann (6. Juni 1875 – 12. August 1955)
Porträt von Dieter van Offern
Thomas Manns letzte Villa in Kilchberg in der Schweiz. Sein Sohn Golo Mann hat hier noch bis zu senem eigenen Tode im Jahre 1994 gewohnt.
froumen - 6. Jun, 18:15