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Giacomo Leopardi, Ror Wolf

Der italienische Dichter, Essayist und Philologe Giacomo Graf Leopardi wurde am 29. Juni 1798 in Recanati geboren. Als er zwanzig Jahre alt war, hatte er schon ein durch und durch pessimistisches Weltbild entwickelt, was sein gesamtes literarisches Schaffen prägen sollte. Er begann seine Dichterlaufbahn im Jahre 1820. Die Helden seiner frühen Gedichte waren meistens Patrioten, die gegen Widrigkeiten ankämpften. Zu Lebzeiten gründete sich sein Ruhm jedoch auf seine Prosaarbeiten, darunter Dialoge und Essays, die er Operette Morali (1827) nannte und seine Gedanken und Briefe. Ab 1833 verschlechterte sich sein seit der Jugend prekärer Gesundheitszustand, und er zog mit seinem Gefährten Rainieri ins wärmere Neapel. Dort lebte und arbeitete er bis zu seinem Tode im Jahre 1837.



An Silvia

Silvia, gedenkst du noch
An jene Zeit in deinem Erdenleben,
Als dir von Schönheit glänzte
Dein lachend Augenpaar in muntrer Helle
Und du betratst, froh und gedankenvoll,
Des Jungfraunalters Schwelle?

Von früh bis spät erklangen
Die stillen Zimmer und ringsum die Gassen
Von deinem hellen Singen,
Wenn bei der Arbeit eifrig ohne Säumen
Du saßest und in Träumen
Von schöner Zukunft fröhlich war dein Sinn.
Süß duftete der Mai. So pflegtest du
Die Tage zu verbringen.

Dann meinen theuren Büchern
Abtrünnig und den mühevollen Heften,
An die ich früh gewendet
Den besten Theil von meinen Jugendkräften,
Wie manchmal von des Vaterhauses Söller
Lauscht' ich auf deine Stimme unverwandt
Und spähte nach der Hand,
Die flink das Linnen hin und her durchlief.
Wie still die Luft sich kühlte!
Wie golden Weg' und Gärten,
Und hier das ferne Meer und dort die Berge!
Kein Menschenmund spricht aus,
Was ich im Busen fühlte!

Wie liebliche Gedanken,
O meine Silvia, welch ein hoffend Streben!
Wie schien das Menschenleben
Uns damals wundersam!
Bedenk' ich, wie viel Täuschungen verglommen,
Fühl' ich mein Herz beklommen
Von trostlos bittrem Gram,
Und all mein Elend däucht mir schwerer nur.
Warum, warum, Natur,
Hältst du nicht Wort, erfüllest,
Was du versprachst, und trügst die eignen Kinder,
Die du mit Wahn umhüllest?

Du, eh' im Winter noch die Flur erstarrt,
Von tückisch leisem Siechthum hingerafft
Vergingst, du Zärtliche, und schautest nicht
Die Blüte deiner Jahre
Und durftest nicht erst fühlen,
Wie süß das Lob auf deine schwarzen Locken,
Auf deine feurigscheuen Liebesblicke;
Nicht plauderten mit dir von holdem Glücke
Am Festtag die Gespielen.

Auch mir verging – wie bald! –
Mein liebstes Hoffen, meinen Jahren auch
Versagten die Geschicke
Den Jugendglanz. Wie bist du
Entschwebt, gleich einem Hauch,
Holde Gefährtin meiner Knabenzeit,
Hoffnung, du vielbeweinte!
Das also ist die Welt,
Die Freuden, Thaten, Lieb' und bunten Fährden,
Die Jeder fröhlich zu erleben meinte?
Dies das Geschick der Sterblichen auf Erden?
Beim Nah'n der Wahrheit sankst du
Dahin, du Aermste; und von ferne nur
Wies deine Hand den kalten Tod mir und
Ein Grab auf öder Flur.




Übersetzt von Paul Heyse







giacomo_leopardi_1
Giacomo Leopardi (29. Juni 1798 – 14. Juni 1837)





Der deutsche Schriftsteller Ror Wolf wurde am 29. Juni 1932 in Saalfeld/Saale, Thüringen, geboren. Ror Wolf arbeitete zwei Jahre als Betonbauer in der DDR, bevor er in die Bundesrepublik übersiedelte. Er studierte Literatur, Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main und Hamburg. Seit 1957 veröffentlicht er Collagen, Lyrik, Hörspiele und Prosa. Heute lebt Ror Wolf in Mainz.

Aus: Verschiedene Möglichkeiten, die Ruhe zu verlieren

“Bevor ich geschrieben habe, habe ich gelesen. Bevor ich gelesen habe, habe ich geschrieben. Aber bevor ich geschrieben und gelesen habe, habe ich mir Geschichten erfunden, in die ich nachts wie in den warmen Bauch hineinkriechen konnte.
Es war niemand da, der mir Geschichten erzählt hat. Mein Vater war auf Reisen mit vielen Grüßen. Meine Mutter stand hinter der Ladenkasse und sagte nicht viel. Mein Großvater saß schweigend auf dem Schusterstuhl, unablässig auf Sohlen und Absätze einschlagend, die Zwecken zwischen den Lippen. Meine Großmutter schaute zum Fenster hinaus. Dort sah sie den Spitzberg, den Roten und den Breiten Berg und den Schwarzen Berg und hat mir keine Geschichte erzählt.
Anfang neununddreißig verbrachte ich einige Zeit mit der normalen Schreibschrift nach Ludwig Sütterlin.
Danach folgte die Einübung in die Druckschrift. Mein Vater war mit einer grauen Mütze verschwunden. Meine Mutter stand fremd und fern hinter der Kasse. Mein Großvater war vom Schusterstuhl gefallen und tot. Meine Großmutter schaute zum Fenster hinaus und vertrocknete stumm. Ich las:
der Tisch ist rein. Tasche. Tinte. Tante
die Dose ist rund. Dach. Docht. Daumen
da du dem doch und rund
der Sand die Hand
der Koch das Loch
der Zeiger zeigt die Zeit
Ich las: ich lese ich rechne ich male ich laufe ich lache ich höre ich sehe ich rufe ich freue mich.
Das war also die erste Begegnung mit dem Gedruckten. Ein Abenteuer. Ein Lese-Erlebnis. Ich machte mich auf und davon mit Strohhalm, Kohle und Bohne zum Berg Semsi.”






wolf
Ror Wolf (Saalfeld/Saale, 29. Juni 1932)

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Zuletzt aktualisiert: 23. Jan, 19:14

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