Harry Mulisch, Sten Nadolny
Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch wurde am 29. Juli 1927 in Haarlem geboren. Harry Mulisch ist der Sohn eines ehemaligen österreichischen Offiziers und einer Frankfurter Jüdin. Sein Vater Karl Viktor Kurt Mulisch war während der Zeit der deutschen Besetzung der Niederlande (1940-45) Personaldirektor einer Bank, die konfisziertes jüdisches Eigentum verwaltete. Für diese Tätigkeit musste der Vater nach dem Krieg drei Jahre in ein Internierungslager. Allerdings konnte er durch diese Position seine jüdische Ex-Gattin und den Sohn vor den Nationalsozialisten und der Deportation schützen. 1936 ließen sich seine Eltern scheiden.
Die Bindung Mulischs zwischen Verfolgung wegen seiner jüdischen Herkunft einerseits (über die Mutter) und der Kollaboration mit den nationalsozialistischen deutschen Besatzern andererseits (über den Vater) prägte ganz erheblich sein schriftstellerisches Werk.Weltweite Beachtung fanden seine Romane Das Attentat (1982), in dem es um die Folgen der Ermordung eines mit dem NS-Regime kollaborierenden holländischen Polizisten geht, sowie Die Entdeckung des Himmels (1992), in dem das Verhältnis von Wissenschaft und Religion auf mystische Weise behandelt wird.
Aus: Archibald Strohalm (Übersetzt von Gregor Seferens)
„Mit der Zeit bekamen seine Pläne deutlichere Konturen und gingen seine Vorstellungen in Worte
über. Und als dieser Prozeß in Gang gekommen war, vergrößerte sich das Loch in seinem Innern, so daß sie hervorbrachen, immer schneller: Es dehnte sich zu einer klaffenden Öffnung aus, die einen wilden Strom passieren ließ. Zwar hatte er von Anfang an gespürt, daß sein Vorhaben über eine Kasperltheatervorstellung weit hinausging – dermaßen weit, daß alles andere dafür aufgegeben werden mußte –, doch es war ihm nicht bewußt gewesen, daß dieser arglose Anfang sich zu einer Ideenflut auswachsen konnte, die jetzt nur ihn überströmte, die dies in Zukunft aber mit vielen, vielen Menschen tun würde. Was gut wäre. Es würde die Menschheit von viel Unerträglichem erlösen.
Ha, welch eine Wirkung dieses Wort auf ihn hatte: erlösen! Erlösen? Mit einem Drang nach Menschlichkeit hatte das nichts zu tun. Die Menschen ließen ihn kalt. Wenn er überhaupt daran dachte, die Menschheit zu erlösen, dann war dies ein sehr abstraktes Menschentum, ein amorpher
Haufen, in dem er keine Gesichter erkennen konnte. Und wovon sollte er es erlösen? Den Mund vom Schmerz? Das Auge von Dummheit? Wenn er es bloß nicht unglücklicherweise von der Liebe erlöste.
Um genau zu sein: Er war sich selbst das Menschentum.
Neben der Arbeit, die er jetzt verrichtete, war alles, was er früher getan hatte, bedeutungslos. Bei Ballegoyen war er ein fleißiger Arbeiter gewesen, doch um fünf Uhr fiel die Tür hinter ihm ins Schloß, und er hatte bis zum nächsten Morgen Ruhe. Und jetzt? Der Ideenflut war der achtstündige Arbeitstag gleichgültig: Es war noch eine sehr feudale Ideenflut! Daß er um fünf Uhr einen Deckel auf die Öffnung in seinem Innern setzte, daran war gar nicht zu denken; und auch morgens rauschte es lange vor dem Beginn der Arbeitszeit im Büro durch das Loch hindurch. Er hatte kaum Zeit zu essen: Nicht der Notizblock lag neben dem Teller, der Teller stand neben dem Notizblock. Auch sein Schlaf war Arbeit: Ein Traum jagte den anderen, oft schrie er um Hilfe, und er erwachte aufrecht stehend mitten im Zimmer. Und mit der Zeit wurde ihm klar, daß es möglicherweise eine Sache auf Leben und Tod werden könnte, diese Ideeninvasion einzudämmen.
Morgens, wenn er noch nicht wach war, aber auch nicht mehr schlief, genau auf der Schwelle, hatte er wiederholt eine Vision: halb war sie noch Traumbild, doch halb war sie auch schon Gedankenkonstrukt. Vergnügt spaziert er durch eine stille Landschaft: ein Pfad, ein paar grüne Hügel – man kann sie durch das Fenster im Hintergrund alter italienischer Porträts sehen. Alles ist in gedeckten Farben zur Ruhe gekommen. Doch dann zeichnet sich plötzlich ein Vogelschwarm am Himmel ab: regungslos. Kurze Zeit später lassen die Vögel ihre Eier fallen, weiße, gestreifte, gepunktete, rote, grüne, und er muß wie ein Besessener herumspringen, um sie alle aufzufangen
und in wattierte Schachteln zu legen.“

Harry Mulisch (Haarlem, 29. Juli 1927)
Der deutsche Schriftsteller Sten Nadolny wurde am 29. Juli 1942 in Zehdenick an der Havel geboren. Nadolny wuchs in Oberbayern auf; nach dem Abitur in Traunstein studierte er in München sowie in Göttingen, Tübingen und Berlin Geschichte und Politikwissenschaft. 1976 promovierte er an der Freien Universität Berlin zu dem Thema Abrüstungsdiplomatie 1932/1933. Sein Großvater Rudolf Nadolny leitete 1932/1933 die deutsche Delegation auf der Genfer Abrüstungskonferenz des Völkerbunds. Bevor er als Aufnahmeleiter ins Filmgeschäft einstieg, war er für etwa ein Jahr als Geschichtslehrer tätig.
1981 erschien mit Netzkarte sein erster Roman, der auf Grundlage des Drehbuchs eines gleichnamigen Filmprojekts entstand, das nie realisiert wurde. Protagonist des Buchs ist der 30-jährige Studienreferendar Ole Reuter, der eine einmonatige Reise mit der Bundesbahn unternimmt. Sten Nadolnys bekanntestes Werk, Die Entdeckung der Langsamkeit, erschien zwei Jahre später, nachdem das fünfte Kapitel mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden war. Das Buch beschreibt, angelehnt an das Leben des Polarforschers John Franklin, den Werdegang eines Menschen, der scheinbar durch eine geistige Behinderung langsamer ist als der Rest der Welt, und trotz oder wegen seiner Langsamkeit seinen Weg geht und ein berühmter Kapitän und Entdecker wird. 1990 hielt Nadolny an der Münchener Universität die Münchner Poetikvorlesungen. Die inzwischen gealterte Hauptfigur von Netzkarte ließ der Autor 1999 in Er oder ich wiederauferstehen.
Aus: Er oder Ich
"6. August, früher Nachmittag, auf dem S-Bahnsteig in Halensee. Ein etwas zu langer Blick in meine Augen, zwei junge Leute scheinen mich erkannt zu haben. Ich beachte sie nicht und beginne mit meinen Notizen. (Kein Wort über Wirtschaft und Politik!)Jenseits der Gleise wird in einer Drehtrommel Kies gewaschen. Aus großen Haufen schmutzigen Gerölls wird brauchbarer Schotter, ein
verständlicher und produktiver Vorgang, eine Gebetsmühle mit Resultat. Was wäre, wenn dabei Gold anfiele? Lustloses Grübeln über den Goldpreis. Hier mein Filzstift, hier das erste der rasch noch gekauften sechs Schreibhefte, es ist aufgeschlagen und der Länge nach in der Mitte gefalzt, damit es in die Jacken- oder Hemdtasche paßt. Der Filzstift ist ungeeignet. Seine Schrift färbt durch, bei feuchtem Papier sowieso, ich schwitze zu sehr. Ich kann jedes Blatt nur von einer Seite beschriften. Vielleicht sollte ich das Heft ins Außenfach des 'Pilotenkoffers' stecken. Ein unpraktisches Ding aus starr em Kunststoff, ich habe es, fürchte ich, seiner Bezeichnung wegen gekauft. Am 6. August 1996 stellte ein großer, schwerer, vor Anstrengung schwitzender Mann im S-Bahnhof Halensee zwei Koffer auf den Bahnsteig. Er legte seine Rechte ins Kreuz, richtete sich ächzend auf, blinzelte in die Nachmittagssonne und ähnelte dabei, das war ihm nur zu klar, dem Bild des durstigen Dicken in einer Reklame für Dosenbier. Als Wartende ihn starr anlächelten, blickte er unwirsch weg. Jenseits der Gleise leierte eine Art Kieswaschmaschine, der Mann starrte hinüber, das Geräusch schien ihn zu beruhigen. Er wischte mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn, zog aus der rechten Innentasche seines Jacketts ein längs zusammengefaltetes blaues Schulheft, dann aus einer anderen Tasche einen Filzstift, und wollte etwas aufschreiben. Das Heft war feucht geworden, er fand erst weiter innen ein trockenes Blatt, auf dem sich Notizen machen ließen. Immer wieder blickte er in beide Richtungen, aus denen ein Zug kom men konnte, schien sich also zwischen Süden und Norden noch nicht entschieden zu haben. Dann befiel ihn erneut Unruhe, er beugte sich zu den Koffern, tastete in den Außentaschen des kleineren, öffnete den größeren, ohne diesen aber flachzulegen, wodurch Krawatten, Gürtel und Hemdsärmel herausdrängten.”

Sten Nadolny (Zehdenick an der Havel, 29. Juli 1942)
Die Bindung Mulischs zwischen Verfolgung wegen seiner jüdischen Herkunft einerseits (über die Mutter) und der Kollaboration mit den nationalsozialistischen deutschen Besatzern andererseits (über den Vater) prägte ganz erheblich sein schriftstellerisches Werk.Weltweite Beachtung fanden seine Romane Das Attentat (1982), in dem es um die Folgen der Ermordung eines mit dem NS-Regime kollaborierenden holländischen Polizisten geht, sowie Die Entdeckung des Himmels (1992), in dem das Verhältnis von Wissenschaft und Religion auf mystische Weise behandelt wird.
Aus: Archibald Strohalm (Übersetzt von Gregor Seferens)
„Mit der Zeit bekamen seine Pläne deutlichere Konturen und gingen seine Vorstellungen in Worte
über. Und als dieser Prozeß in Gang gekommen war, vergrößerte sich das Loch in seinem Innern, so daß sie hervorbrachen, immer schneller: Es dehnte sich zu einer klaffenden Öffnung aus, die einen wilden Strom passieren ließ. Zwar hatte er von Anfang an gespürt, daß sein Vorhaben über eine Kasperltheatervorstellung weit hinausging – dermaßen weit, daß alles andere dafür aufgegeben werden mußte –, doch es war ihm nicht bewußt gewesen, daß dieser arglose Anfang sich zu einer Ideenflut auswachsen konnte, die jetzt nur ihn überströmte, die dies in Zukunft aber mit vielen, vielen Menschen tun würde. Was gut wäre. Es würde die Menschheit von viel Unerträglichem erlösen.
Ha, welch eine Wirkung dieses Wort auf ihn hatte: erlösen! Erlösen? Mit einem Drang nach Menschlichkeit hatte das nichts zu tun. Die Menschen ließen ihn kalt. Wenn er überhaupt daran dachte, die Menschheit zu erlösen, dann war dies ein sehr abstraktes Menschentum, ein amorpher
Haufen, in dem er keine Gesichter erkennen konnte. Und wovon sollte er es erlösen? Den Mund vom Schmerz? Das Auge von Dummheit? Wenn er es bloß nicht unglücklicherweise von der Liebe erlöste.
Um genau zu sein: Er war sich selbst das Menschentum.
Neben der Arbeit, die er jetzt verrichtete, war alles, was er früher getan hatte, bedeutungslos. Bei Ballegoyen war er ein fleißiger Arbeiter gewesen, doch um fünf Uhr fiel die Tür hinter ihm ins Schloß, und er hatte bis zum nächsten Morgen Ruhe. Und jetzt? Der Ideenflut war der achtstündige Arbeitstag gleichgültig: Es war noch eine sehr feudale Ideenflut! Daß er um fünf Uhr einen Deckel auf die Öffnung in seinem Innern setzte, daran war gar nicht zu denken; und auch morgens rauschte es lange vor dem Beginn der Arbeitszeit im Büro durch das Loch hindurch. Er hatte kaum Zeit zu essen: Nicht der Notizblock lag neben dem Teller, der Teller stand neben dem Notizblock. Auch sein Schlaf war Arbeit: Ein Traum jagte den anderen, oft schrie er um Hilfe, und er erwachte aufrecht stehend mitten im Zimmer. Und mit der Zeit wurde ihm klar, daß es möglicherweise eine Sache auf Leben und Tod werden könnte, diese Ideeninvasion einzudämmen.
Morgens, wenn er noch nicht wach war, aber auch nicht mehr schlief, genau auf der Schwelle, hatte er wiederholt eine Vision: halb war sie noch Traumbild, doch halb war sie auch schon Gedankenkonstrukt. Vergnügt spaziert er durch eine stille Landschaft: ein Pfad, ein paar grüne Hügel – man kann sie durch das Fenster im Hintergrund alter italienischer Porträts sehen. Alles ist in gedeckten Farben zur Ruhe gekommen. Doch dann zeichnet sich plötzlich ein Vogelschwarm am Himmel ab: regungslos. Kurze Zeit später lassen die Vögel ihre Eier fallen, weiße, gestreifte, gepunktete, rote, grüne, und er muß wie ein Besessener herumspringen, um sie alle aufzufangen
und in wattierte Schachteln zu legen.“

Harry Mulisch (Haarlem, 29. Juli 1927)
Der deutsche Schriftsteller Sten Nadolny wurde am 29. Juli 1942 in Zehdenick an der Havel geboren. Nadolny wuchs in Oberbayern auf; nach dem Abitur in Traunstein studierte er in München sowie in Göttingen, Tübingen und Berlin Geschichte und Politikwissenschaft. 1976 promovierte er an der Freien Universität Berlin zu dem Thema Abrüstungsdiplomatie 1932/1933. Sein Großvater Rudolf Nadolny leitete 1932/1933 die deutsche Delegation auf der Genfer Abrüstungskonferenz des Völkerbunds. Bevor er als Aufnahmeleiter ins Filmgeschäft einstieg, war er für etwa ein Jahr als Geschichtslehrer tätig.
1981 erschien mit Netzkarte sein erster Roman, der auf Grundlage des Drehbuchs eines gleichnamigen Filmprojekts entstand, das nie realisiert wurde. Protagonist des Buchs ist der 30-jährige Studienreferendar Ole Reuter, der eine einmonatige Reise mit der Bundesbahn unternimmt. Sten Nadolnys bekanntestes Werk, Die Entdeckung der Langsamkeit, erschien zwei Jahre später, nachdem das fünfte Kapitel mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden war. Das Buch beschreibt, angelehnt an das Leben des Polarforschers John Franklin, den Werdegang eines Menschen, der scheinbar durch eine geistige Behinderung langsamer ist als der Rest der Welt, und trotz oder wegen seiner Langsamkeit seinen Weg geht und ein berühmter Kapitän und Entdecker wird. 1990 hielt Nadolny an der Münchener Universität die Münchner Poetikvorlesungen. Die inzwischen gealterte Hauptfigur von Netzkarte ließ der Autor 1999 in Er oder ich wiederauferstehen.
Aus: Er oder Ich
"6. August, früher Nachmittag, auf dem S-Bahnsteig in Halensee. Ein etwas zu langer Blick in meine Augen, zwei junge Leute scheinen mich erkannt zu haben. Ich beachte sie nicht und beginne mit meinen Notizen. (Kein Wort über Wirtschaft und Politik!)Jenseits der Gleise wird in einer Drehtrommel Kies gewaschen. Aus großen Haufen schmutzigen Gerölls wird brauchbarer Schotter, ein
verständlicher und produktiver Vorgang, eine Gebetsmühle mit Resultat. Was wäre, wenn dabei Gold anfiele? Lustloses Grübeln über den Goldpreis. Hier mein Filzstift, hier das erste der rasch noch gekauften sechs Schreibhefte, es ist aufgeschlagen und der Länge nach in der Mitte gefalzt, damit es in die Jacken- oder Hemdtasche paßt. Der Filzstift ist ungeeignet. Seine Schrift färbt durch, bei feuchtem Papier sowieso, ich schwitze zu sehr. Ich kann jedes Blatt nur von einer Seite beschriften. Vielleicht sollte ich das Heft ins Außenfach des 'Pilotenkoffers' stecken. Ein unpraktisches Ding aus starr em Kunststoff, ich habe es, fürchte ich, seiner Bezeichnung wegen gekauft. Am 6. August 1996 stellte ein großer, schwerer, vor Anstrengung schwitzender Mann im S-Bahnhof Halensee zwei Koffer auf den Bahnsteig. Er legte seine Rechte ins Kreuz, richtete sich ächzend auf, blinzelte in die Nachmittagssonne und ähnelte dabei, das war ihm nur zu klar, dem Bild des durstigen Dicken in einer Reklame für Dosenbier. Als Wartende ihn starr anlächelten, blickte er unwirsch weg. Jenseits der Gleise leierte eine Art Kieswaschmaschine, der Mann starrte hinüber, das Geräusch schien ihn zu beruhigen. Er wischte mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn, zog aus der rechten Innentasche seines Jacketts ein längs zusammengefaltetes blaues Schulheft, dann aus einer anderen Tasche einen Filzstift, und wollte etwas aufschreiben. Das Heft war feucht geworden, er fand erst weiter innen ein trockenes Blatt, auf dem sich Notizen machen ließen. Immer wieder blickte er in beide Richtungen, aus denen ein Zug kom men konnte, schien sich also zwischen Süden und Norden noch nicht entschieden zu haben. Dann befiel ihn erneut Unruhe, er beugte sich zu den Koffern, tastete in den Außentaschen des kleineren, öffnete den größeren, ohne diesen aber flachzulegen, wodurch Krawatten, Gürtel und Hemdsärmel herausdrängten.”

Sten Nadolny (Zehdenick an der Havel, 29. Juli 1942)
froumen - 29. Jul, 18:51