Claudio Magris, Stefan Heym
Der italienische Schriftsteller und Übersetzer Claudio Magris wurde am 10. April 1939 in Triest geboren. Er hat in Turin Germanistik studiert und abgeschlossen. Seit 1978 ist er Professor für Moderne deutschsprachige Literatur an der Universität Triest. Magris ist Essayist und Kolumnist für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera und andere europäische Zeitungen. Durch seine unzähligen Studien zur mitteleuropäischen Kultur gilt er als deren größter Förderer in Italien.
Magris' erstes Buch handelt vom habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Er hat Essays über Hoffmann, Roth, Ibsen, Svevo, Musil, Hesse und Borges geschrieben. Der literarische Durchbruch gelang Magris 1986 mit seinem bekanntesten Werk, Danubio (Donau), einer literarischen Reise entlang der Donau von der Quelle bis zur Mündung, in deren Vordergrund die multikulturelle Vergangenheit des Donauraumes steht.
Aus: Blindlings (Übersetzt von Ragni Maria Gschwend)
„Mein lieber Cogoi, ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, obwohl ich es selber geschrieben habe, daß niemand das Leben eines Menschen besser erzählen könne als er selbst. Natürlich hat dieser Satz ein Fragezeichen; ja, wenn ich mich recht erinnere – inzwischen sind so viele Jahre vergangen, ein Jahrhundert, die Welt hier herum war jung, ein taufrischer grüner Morgen, aber sie war schon ein Gefängnis –, habe ich als erstes genau dieses Fragezeichen gesetzt, das alles hinter sich herzieht. Als mich Doktor Ross aufforderte, jene Seiten für das Jahrbuch zu schreiben, hätte ich große Lust gehabt –
und das wäre ehrlich gewesen –, ihm einen Stapel Blätter mit nichts als einem Fragezeichen drauf zu schicken, aber ich wollte nicht unhöflich sein, ausgerechnet ihm gegenüber, der im Unterschied zu den anderen so freundlich und wohlwollend ist; außerdem wäre es nicht angebracht gewesen, jemanden zu verärgern, der dich aus einem geschützten Winkel, wie die Redaktion des Almanachs der Strafkolonie, herausholen und in die Hölle von Port Arthur expedieren kann, wo du es mit der neunschwänzigen Katze auf den Buckel kriegst, sobald du dich, erschöpft von den Steinblöcken und dem eiskalten Wasser, auch nur für einen Augenblick auf den Boden setzt.
Also habe ich vor dieses Fragezeichen lediglich den ersten Satz geschrieben und nicht mein ganzes Leben, meines, seines oder wessen auch immer. Das Leben – pflegte unser Grammatiklehrer Pistorius zu sagen, wobei er die lateinischen Ausdrücke mit runden, gemessenen Gesten begleitete, in jenem Raum mit der roten Tapete, die sich am Abend verdüsterte und erlosch: Glut der Kindheit, die im Dunklen verglomm –, das Leben ist keine Proposition oder Assertion, sondern eine Interjektion, eine Interpunktion, eine Konjunktion, im Höchstfall ein Adverb.“
Claudio Magris (Triëst, 10. April 1939)
Der deutsche Schrifsteller Stefan Heym wurde am 10. April 1913 in Chemnitz geboren. Er emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In New York schrieb er seine ersten Romane. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurück und fand Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er international bekannt und zählt zu den erfolgreichsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur.
Aus: Die Architekten
“Bald würden sie in Brest eintreffen, hörte er einen der Wachposten sagen. Die Posten spielten Domino; sie hieben ihre kleinen schwarzen Steine krachend auf ein Brett, das sie sich quer über die Knie gelegt hatten, und rauchten Machorka. Der Waggon, für Güter und Pferde gedacht, nicht für Menschen, ratterte über die ausgefahrenen Gleise, und der Geruch nach Schweiß und Angst wollte sich nicht verziehen, obwohl die Belüftungsklappen unter dem Dach so weit es ging offenstanden und sogar die Ladetür in der Seitenwand um einen Spaltbreit beiseite geschoben worden war.
Brest, dachte er. Seit vergangenem Jahr – soviel war durch Gefängnismauern und über die sibirische Taiga gedrungen – waren Stadt und Festung Brest wieder sowjetisch. Jenseits von Brest lag die neue Grenze, lag das Großdeutschland der Nazis.
Die Unruhe, die ihn zermürbte, seit er erfahren hatte, daß er aus der Sowjetunion abgeschoben werden sollte, schien sich auf einen einzigen Brennpunkt in seinem Innern zu konzentrieren; und es kostete ihn viel Nervenkraft, um wenigstens ein Minimum an Gleichgewicht in seinem Herzen zu wahren: Was, im Grunde, würde dem Genossen Julian Goltz denn Schlimmeres widerfahren als eine Art von Strafversetzung aus der Bratpfanne ins Feuer. Mit seinem Leben hatte er sowieso abgeschlossen.
Der Tod von Babette, so grausam der Gedanke ihm auch erschien, hatte zugleich auch das Ende der Sorgen um seine Frau bedeutet; nur die Angst um Julia war geblieben, doch war sogar auch diese Angst nun leichter zu ertragen, da er hoffen durfte, daß Sundstrom, mit seinem Talent und seinen Beziehungen, einer Verhaftung entgangen war und so sich des Kindes annehmen konnte.”
Stefan Heym (10. April 1913 – 16. Dezember 2001)
Magris' erstes Buch handelt vom habsburgischen Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Er hat Essays über Hoffmann, Roth, Ibsen, Svevo, Musil, Hesse und Borges geschrieben. Der literarische Durchbruch gelang Magris 1986 mit seinem bekanntesten Werk, Danubio (Donau), einer literarischen Reise entlang der Donau von der Quelle bis zur Mündung, in deren Vordergrund die multikulturelle Vergangenheit des Donauraumes steht.
Aus: Blindlings (Übersetzt von Ragni Maria Gschwend)
„Mein lieber Cogoi, ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, obwohl ich es selber geschrieben habe, daß niemand das Leben eines Menschen besser erzählen könne als er selbst. Natürlich hat dieser Satz ein Fragezeichen; ja, wenn ich mich recht erinnere – inzwischen sind so viele Jahre vergangen, ein Jahrhundert, die Welt hier herum war jung, ein taufrischer grüner Morgen, aber sie war schon ein Gefängnis –, habe ich als erstes genau dieses Fragezeichen gesetzt, das alles hinter sich herzieht. Als mich Doktor Ross aufforderte, jene Seiten für das Jahrbuch zu schreiben, hätte ich große Lust gehabt –
und das wäre ehrlich gewesen –, ihm einen Stapel Blätter mit nichts als einem Fragezeichen drauf zu schicken, aber ich wollte nicht unhöflich sein, ausgerechnet ihm gegenüber, der im Unterschied zu den anderen so freundlich und wohlwollend ist; außerdem wäre es nicht angebracht gewesen, jemanden zu verärgern, der dich aus einem geschützten Winkel, wie die Redaktion des Almanachs der Strafkolonie, herausholen und in die Hölle von Port Arthur expedieren kann, wo du es mit der neunschwänzigen Katze auf den Buckel kriegst, sobald du dich, erschöpft von den Steinblöcken und dem eiskalten Wasser, auch nur für einen Augenblick auf den Boden setzt.
Also habe ich vor dieses Fragezeichen lediglich den ersten Satz geschrieben und nicht mein ganzes Leben, meines, seines oder wessen auch immer. Das Leben – pflegte unser Grammatiklehrer Pistorius zu sagen, wobei er die lateinischen Ausdrücke mit runden, gemessenen Gesten begleitete, in jenem Raum mit der roten Tapete, die sich am Abend verdüsterte und erlosch: Glut der Kindheit, die im Dunklen verglomm –, das Leben ist keine Proposition oder Assertion, sondern eine Interjektion, eine Interpunktion, eine Konjunktion, im Höchstfall ein Adverb.“
Claudio Magris (Triëst, 10. April 1939)
Der deutsche Schrifsteller Stefan Heym wurde am 10. April 1913 in Chemnitz geboren. Er emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In New York schrieb er seine ersten Romane. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurück und fand Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er international bekannt und zählt zu den erfolgreichsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur.
Aus: Die Architekten
“Bald würden sie in Brest eintreffen, hörte er einen der Wachposten sagen. Die Posten spielten Domino; sie hieben ihre kleinen schwarzen Steine krachend auf ein Brett, das sie sich quer über die Knie gelegt hatten, und rauchten Machorka. Der Waggon, für Güter und Pferde gedacht, nicht für Menschen, ratterte über die ausgefahrenen Gleise, und der Geruch nach Schweiß und Angst wollte sich nicht verziehen, obwohl die Belüftungsklappen unter dem Dach so weit es ging offenstanden und sogar die Ladetür in der Seitenwand um einen Spaltbreit beiseite geschoben worden war.
Brest, dachte er. Seit vergangenem Jahr – soviel war durch Gefängnismauern und über die sibirische Taiga gedrungen – waren Stadt und Festung Brest wieder sowjetisch. Jenseits von Brest lag die neue Grenze, lag das Großdeutschland der Nazis.
Die Unruhe, die ihn zermürbte, seit er erfahren hatte, daß er aus der Sowjetunion abgeschoben werden sollte, schien sich auf einen einzigen Brennpunkt in seinem Innern zu konzentrieren; und es kostete ihn viel Nervenkraft, um wenigstens ein Minimum an Gleichgewicht in seinem Herzen zu wahren: Was, im Grunde, würde dem Genossen Julian Goltz denn Schlimmeres widerfahren als eine Art von Strafversetzung aus der Bratpfanne ins Feuer. Mit seinem Leben hatte er sowieso abgeschlossen.
Der Tod von Babette, so grausam der Gedanke ihm auch erschien, hatte zugleich auch das Ende der Sorgen um seine Frau bedeutet; nur die Angst um Julia war geblieben, doch war sogar auch diese Angst nun leichter zu ertragen, da er hoffen durfte, daß Sundstrom, mit seinem Talent und seinen Beziehungen, einer Verhaftung entgangen war und so sich des Kindes annehmen konnte.”
Stefan Heym (10. April 1913 – 16. Dezember 2001)
froumen - 10. Apr, 19:09