Charlotte Brontë, Peter Schneider
Die Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë gehören bis heute zu den meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts. Als Töchter eines englischen Pfarrers wuchsen sie in der Abgeschiedenheit eines abgelegenen Pfarrhauses in West Yorkshire auf, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieben. Bereits als Kinder verfaßten die Schwestern gemeinsam mit ihrem Bruder Branwell (1817-1848) die Erzählungen aus Angria. Als der Bruder jedoch alkohol- und drogenkrank wurde, waren die Schwestern aufgrund des frühen Todes der Mutter und der mangelnden Unterstützung des Vaters auf sich alleine gestellt.
Ihre Werke erschienen zeitlebens unter den männlichen Pseudonymen Currer Bell (Charlotte), Ellis Bell (Emily) und Acton Bell (Anne). Charlotte Brontё, die älteste der drei Schwestern. wurde am 21. April 1816 in Thornton geboren. Sie arbeitete u.a. als Lehrerin und Gouvernante, nachdem sie in Brüssel an der Privatschule der Madame Heger Französisch gelernt hatte. Der erst posthum veröffentlichte Roman Der Professor handelt von ihrer unerfüllten Liebe zu Hegers Ehemann und zählt zusammen mit Jane Eyre zu ihren größten Erfolgen.
Aus: Jane Eyre
“Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, daß von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.
Ich war von Herzen froh darüber: lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider: – ein Greuel war es mir, in der rauhen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, – mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessie's, der Kinderwärterin, bis zum Brechen schwer war, – gedemütigt durch das Bewußtsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen.
Die soeben erwähnten Eliza, John und Georgina hatten sich in diesem Augenblick im Salon um ihre Mama versammelt: diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins und umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrieen, sah sie vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon dispensiert, mich der Gruppe anzuschließen, indem sie sagte, daß es sie tief unglücklich mache, gezwungen zu sein, mich fern zu halten; daß sie mich aber von Vorrechten ausschließen müsse, zu deren Genuß nur zufriedene, glückliche, kleine Kinder berechtigt seien, und daß sie mir erst verzeihen würde, wenn sie sowohl durch eigene Wahrnehmung wie durch Bessie's Worte zu der Überzeugung gelangt sein würde, daß ich in allem Ernst versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter – ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen.
»Was sagt denn Bessie, daß ich gethan habe?« fragte ich.
»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es gradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Augenblicklich setzest du dich irgendwo hin und schweigst, bis du freundlicher und liebenswürdiger reden kannst.«
Charlotte Brontë (21. April 1816 – 31. März 1855)
Porträt von Evert A. Duyckinck
Der deutsche Schriftsteller Peter Schneider wurde am 21. April 1940 in Lübeck geboren. Er verbrachte seine frühe Kindheit in Königsberg und in Sachsen; von 1945 bis 1950 lebte er in Grainau bei Garmisch-Partenkirchen und ab 1950 in Freiburg im Breisgau. Nach seinem Abitur im Jahre 1959 studierte er an den Universitäten Freiburg und München Germanistik, Geschichte und Philosophie. 1962 wechselte er zur Freien Universität Berlin. Im Laufe der Sechzigerjahre machte Schneider eine politische Radikalisierung durch, die ihn zu einem der Wortführer und Organisatoren der Berliner Studentenbewegung werden ließ. 1967 war er an der Vorbereitung des "Springer-Tribunals" beteiligt. Schneider arbeitete zeitweise als Hilfsarbeiter in den Bosch-Werken. Später unterrichtete er an einer Privatschule und arbeitete als freier Rundfunkmitarbeiter. 1972 legte er sein 1. Staatsexamen ab; wegen Schneiders politischer Aktivitäten verweigerte ihm 1973 der Berliner Schulsenator die Anstellung als Referendar. Diese Maßnahme wurde erst 1976 durch einen Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts aufgehoben. Da er sich inzwischen eine Existenz als freier Schriftsteller aufgebaut hatte, verzichtete Schneider auf das Referendariat. Sein Roman Lenz war ab 1973 zum Kultbuch der enttäuschten Linken geworden, da es ihr Lebensgefühl nach dem Scheitern ihrer Utopie und Revolte beschrieb. Peter Schneider verfasst seitdem Romane, Erzählungen und Drehbücher, die häufig Schicksale von Angehörigen seiner Generation zum Thema haben.
Aus: Skylla
“Damals, als ich zum ersten Mal auf dem Hügel stand, habe ich mir gewünscht, auf ihm alt zu werden. Jetzt bin ich so alt, wie ich nie werden wollte, und frage mich, was ich mir damals gewünscht habe.
Wenn ich am Nachmittag vom Meer zurückkehre und die Sonne sich dort im Nussbaum fängt, sich in der Baumkrone rot aufbläht und den ganzen Horizont zum Glühen bringt, und dann in ungeheurem Tempo – man kann gerade mal bis zwanzig zählen!
– in dem dunstigen Gewaber zwischen Meer und Himmel verschwindet, ist alles wieder wie am Anfang. Ja, du hast gut gewählt. Mit der gleichen Gewissheit, mit der du die Frau deines Lebens erkannt hast, als du ihr zum ersten Mal begegnet bist, hast du dich für dieses Stück Erde entschieden. Und dann kommen die ersten Enttäuschungen, die kleinen und großen Katastrophen,
die Kompromisse und Betrügereien: die übliche Enttäuschung des Wunsches durch seine Erfüllung. Aber die Euphorie des ersten Blicks, sie stellt sich immer wieder ein. Es ist der schönste Punkt im Umkreis von hundert Quadratkilometern. Hinten die kahlen, elefantengrauen Bergrücken, vorn das ungeheure Meer.
Die Zeit vergeht hier oben anders als in den Städten. Ich sehe die weiß schimmernden Bugwellen, die die Passagierdampfer und Containerschiffe in die Wasserfl äche schneiden, die von hier aus wie blaues, gehämmertes Metall aussieht, und weiß, dass schon vor Jahrtausenden anders geformte Schiffe, von Seeleuten einer anderen Art gelenkt, ähnliche Bugwellen erzeugt haben.
Dort, hinter der Mauer an der Stirnseite des Hügels, mögen vor fünfhundert Jahren Mönche gekniet und ihre Gebete zum Himmel geschickt haben. Womöglich waren sie die letzten, aber ganz sicher nicht die ersten Besiedler des Hügels, denn unter den mittelalterlichen Ruinen kommen römische Mauern zum Vorschein und unter diesen wieder andere, die von noch früheren Generationen zeugen. Vor den Menschen müssen Adler hier gehaust haben.”
Peter Schneider (Lübeck, 21. April 1940)
Ihre Werke erschienen zeitlebens unter den männlichen Pseudonymen Currer Bell (Charlotte), Ellis Bell (Emily) und Acton Bell (Anne). Charlotte Brontё, die älteste der drei Schwestern. wurde am 21. April 1816 in Thornton geboren. Sie arbeitete u.a. als Lehrerin und Gouvernante, nachdem sie in Brüssel an der Privatschule der Madame Heger Französisch gelernt hatte. Der erst posthum veröffentlichte Roman Der Professor handelt von ihrer unerfüllten Liebe zu Hegers Ehemann und zählt zusammen mit Jane Eyre zu ihren größten Erfolgen.
Aus: Jane Eyre
“Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, daß von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.
Ich war von Herzen froh darüber: lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider: – ein Greuel war es mir, in der rauhen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, – mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessie's, der Kinderwärterin, bis zum Brechen schwer war, – gedemütigt durch das Bewußtsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen.
Die soeben erwähnten Eliza, John und Georgina hatten sich in diesem Augenblick im Salon um ihre Mama versammelt: diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins und umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrieen, sah sie vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon dispensiert, mich der Gruppe anzuschließen, indem sie sagte, daß es sie tief unglücklich mache, gezwungen zu sein, mich fern zu halten; daß sie mich aber von Vorrechten ausschließen müsse, zu deren Genuß nur zufriedene, glückliche, kleine Kinder berechtigt seien, und daß sie mir erst verzeihen würde, wenn sie sowohl durch eigene Wahrnehmung wie durch Bessie's Worte zu der Überzeugung gelangt sein würde, daß ich in allem Ernst versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter – ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen.
»Was sagt denn Bessie, daß ich gethan habe?« fragte ich.
»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es gradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Augenblicklich setzest du dich irgendwo hin und schweigst, bis du freundlicher und liebenswürdiger reden kannst.«
Charlotte Brontë (21. April 1816 – 31. März 1855)
Porträt von Evert A. Duyckinck
Der deutsche Schriftsteller Peter Schneider wurde am 21. April 1940 in Lübeck geboren. Er verbrachte seine frühe Kindheit in Königsberg und in Sachsen; von 1945 bis 1950 lebte er in Grainau bei Garmisch-Partenkirchen und ab 1950 in Freiburg im Breisgau. Nach seinem Abitur im Jahre 1959 studierte er an den Universitäten Freiburg und München Germanistik, Geschichte und Philosophie. 1962 wechselte er zur Freien Universität Berlin. Im Laufe der Sechzigerjahre machte Schneider eine politische Radikalisierung durch, die ihn zu einem der Wortführer und Organisatoren der Berliner Studentenbewegung werden ließ. 1967 war er an der Vorbereitung des "Springer-Tribunals" beteiligt. Schneider arbeitete zeitweise als Hilfsarbeiter in den Bosch-Werken. Später unterrichtete er an einer Privatschule und arbeitete als freier Rundfunkmitarbeiter. 1972 legte er sein 1. Staatsexamen ab; wegen Schneiders politischer Aktivitäten verweigerte ihm 1973 der Berliner Schulsenator die Anstellung als Referendar. Diese Maßnahme wurde erst 1976 durch einen Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts aufgehoben. Da er sich inzwischen eine Existenz als freier Schriftsteller aufgebaut hatte, verzichtete Schneider auf das Referendariat. Sein Roman Lenz war ab 1973 zum Kultbuch der enttäuschten Linken geworden, da es ihr Lebensgefühl nach dem Scheitern ihrer Utopie und Revolte beschrieb. Peter Schneider verfasst seitdem Romane, Erzählungen und Drehbücher, die häufig Schicksale von Angehörigen seiner Generation zum Thema haben.
Aus: Skylla
“Damals, als ich zum ersten Mal auf dem Hügel stand, habe ich mir gewünscht, auf ihm alt zu werden. Jetzt bin ich so alt, wie ich nie werden wollte, und frage mich, was ich mir damals gewünscht habe.
Wenn ich am Nachmittag vom Meer zurückkehre und die Sonne sich dort im Nussbaum fängt, sich in der Baumkrone rot aufbläht und den ganzen Horizont zum Glühen bringt, und dann in ungeheurem Tempo – man kann gerade mal bis zwanzig zählen!
– in dem dunstigen Gewaber zwischen Meer und Himmel verschwindet, ist alles wieder wie am Anfang. Ja, du hast gut gewählt. Mit der gleichen Gewissheit, mit der du die Frau deines Lebens erkannt hast, als du ihr zum ersten Mal begegnet bist, hast du dich für dieses Stück Erde entschieden. Und dann kommen die ersten Enttäuschungen, die kleinen und großen Katastrophen,
die Kompromisse und Betrügereien: die übliche Enttäuschung des Wunsches durch seine Erfüllung. Aber die Euphorie des ersten Blicks, sie stellt sich immer wieder ein. Es ist der schönste Punkt im Umkreis von hundert Quadratkilometern. Hinten die kahlen, elefantengrauen Bergrücken, vorn das ungeheure Meer.
Die Zeit vergeht hier oben anders als in den Städten. Ich sehe die weiß schimmernden Bugwellen, die die Passagierdampfer und Containerschiffe in die Wasserfl äche schneiden, die von hier aus wie blaues, gehämmertes Metall aussieht, und weiß, dass schon vor Jahrtausenden anders geformte Schiffe, von Seeleuten einer anderen Art gelenkt, ähnliche Bugwellen erzeugt haben.
Dort, hinter der Mauer an der Stirnseite des Hügels, mögen vor fünfhundert Jahren Mönche gekniet und ihre Gebete zum Himmel geschickt haben. Womöglich waren sie die letzten, aber ganz sicher nicht die ersten Besiedler des Hügels, denn unter den mittelalterlichen Ruinen kommen römische Mauern zum Vorschein und unter diesen wieder andere, die von noch früheren Generationen zeugen. Vor den Menschen müssen Adler hier gehaust haben.”
Peter Schneider (Lübeck, 21. April 1940)
froumen - 21. Apr, 18:39