Aktuelle Beiträge

Christina Viragh, Derek...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 23. Jan, 19:14
Felicitas Hoppe, Margit...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 23. Dez, 07:50
Rebecca West, Heinrich...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 23. Dez, 07:49
Rafał Wojaczek, Peter...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 6. Dez, 20:44
Joseph Conrad, France...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 3. Dez, 22:09
Daniel Pennac, Mihály...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 1. Dez, 19:24
Carlo Levi, Jean-Philippe...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 29. Nov, 16:30
Eugène Ionesco, William...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 26. Nov, 22:17
Nadine Gordimer, Thomas...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 20. Nov, 22:11
José Saramago, Hugo Dittberner
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 16. Nov, 19:17
Jurga Ivanauskaitė, Taha...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 14. Nov, 19:28
C.K.Williams, Klabund
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 4. Nov, 19:16
Bilal Xhaferri, Leo Perutz
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 2. Nov, 19:07
Dylan Thomas, Sylvia...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 27. Okt, 19:56
Stephen L. Carter, Karin...
DIESER BLOG WIRD HIER NICHT MEHR WEITERGEFÜHRT!!! DIE...
froumen - 26. Okt, 19:51

Mein Lesestoff


Thomas Mann
6. Juni - 12. August 1955


Rainer Maria Rilke
4. Dezember 1875 - 29. Dezember 1926


Georg Trakl
3. Februar 1887 - 4. November 1914

Archiv

Juli 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 

Montag, 7. September 2009

Edith Sitwell, Jenny Aloni

Die englische Schriftstellerin Dame Edith Sitwell wurde geboren am 7. September 1887 in Scarborough. Den Zeitgenossen war die Sitwell sowohl durch ihre Gedichte als auch durch ihren exzentrischen Lebensstil ein Begriff. Ihr Frühwerk steht deutlich in der Tradition der experimentellen Lyrik Baudelaires und Rimbauds, lässt aber auch Einflüsse der Zeitgenossen Yeats und Eliot erkennen. Ein Beispiel hierfür ist Façade (1922), ein Zyklus von 33 Gedichten. Vergleichbare experimentelle Werke waren auch die Totentanzdichtung Gold Coast Customs (1929; Gebräuche an der Golfküste) und der Roman I live under a Black Sun (1937; Ich lebe unter einer schwarzen Sonne), in dem sie Prosa und Lyrik zu einem eigenwilligen Sprachkunstwerk vermischte. Der Roman handelt zwar vordergründig vom Leben Jonathan Swifts, die zentrale Todesthematik bezieht sich aber auf Ereignisse im Freundeskreis der Autorin. Hier deutet sich ein Wandel im Schaffen Sitwells an, der sich unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges beschleunigte. Ihre späteren Werke sind weniger von formalen Experimenten geprägt, sondern von christlich-humanitärer Denkart. Ein berühmtes Gedicht im Kontext des Krieges ist Still Falls the Rain, das einen Luftangriff auf London beschreibt. Edith Sitwell, die außerdem mit mehreren biographischen und literaturkritischen Werken an die Öffentlichkeit trat, wurde 1954 zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannt.


The Fan

LOVELY Semiramis
Closes her slanting eyes:
Dead is she long ago.
From her fan, sliding slow,
Parrot-bright fire's feathers,
Gilded as June weathers,
Plumes bright and shrill as grass
Twinkle down; as they pass
Through the green glooms in Hell
Fruits with a tuneful smell,
Grapes like an emerald rain,
Where the full moon has lain,
Greengages bright as grass,
Melons as cold as glass,
Piled on each gilded booth,
Feel their cheeks growing smooth.
Apes in plumed head-dresses
Whence the bright heat hisses,--
Nubian faces, sly
Pursing mouth, slanting eye,
Feel the Arabian
Winds floating from the fan.





Four in the Morning

Cried the navy-blue ghost
Of Mr. Belaker
The allegro Negro cocktail-shaker,
"Why did the cock crow,
Why am I lost,
Down the endless road to Infinity toss'd?
The tropical leaves are whispering white
As water; I race the wind in my flight.
The white lace houses are carried away
By the tide; far out they float and sway.
White is the nursemaid on the parade.
Is she real, as she flirts with me unafraid?
I raced through the leaves as white as water...
Ghostly, flowed over the nursemaid, caught her,
Left her...edging the far-off sand
Is the foam of the sirens' Metropole and Grand;
And along the parade I am blown and lost,
Down the endless road to Infinity toss'd.
The guinea-fowl-plumaged houses sleep...
On one, I saw the lone grass weep,
Where only the whimpering greyhound wind
Chased me, raced me, for what it could find."
And there in the black and furry boughs
How slowly, coldly, old Time grows,
Where the pigeons smelling of gingerbread,
And the spectacled owls so deeply read,
And the sweet ring-doves of curded milk
Watch the Infanta's gown of silk
In the ghost-room tall where the governante
Gesticulates lente and walks andante.
'Madam, Princesses must be obedient;
For a medicine now becomes expedient--
Of five ingredients--a diapente,
Said the governante, fading lente...
In at the window then looked he,
The navy-blue ghost of Mr. Belaker,
The allegro Negro cocktail-shaker--
And his flattened face like the moon saw she--
Rhinoceros-black (a flowing sea!).








Sitwell
Edith Sitwell (7. September 1887 - 9. Dezember 1964)
Porträt von Roger Fry





Die deutsch-israelische Lyrikerin und Schriftstellerin Jenny Aloni (geb. Rosenbaum) wurde am 7.September 1917 als Tochter eines jüdischen Kaufmanns in der westfälischen Provinzstadt Paderborn geboren. Die Familie war seit Jahrhunderten in Westfalen ansässig. Von 1924-1935 besuchte sie das katholische Oberlyzeum des St. Michael-Klosters, eine von Augustinerchorfrauen geleitete Mädchenschule in Paderborn. Aufgrund der zahlreicher werdenden antisemitischen Anfeindungen entschloss sie sich zur Auswanderung nach Palästina. Mit 18 bereitete sie sich im landwirtschaftlichem Anwesen Gut Winkel in Mark Brandenburg in einem Lager der Jugend-Alija auf ihre Auswanderung vor.1936 zog sie nach Berlin, wo sie sich einer zionistisch- sozialistischen Gruppe anschloss, lernte ihre Hebräisch, sowie etwas Arabisch und holte von Juni 1938 bis zum Februar 1939 auf einer jüdischen Oberschule für Mädchen ihr Abitur nach. Schon zwei Monate später wurde sie Gruppenleiterin einer Jugend-Alija im Hachscharah-Kibbuz Schniebinchen in der Niederlausitz und arbeitete etwa weitere sieben Monate mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Im selben Jahr wanderte sie nach Palästina aus, um dort im Dezember ein Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem anzufangen. Jenny Rosenbaum arbeitete von 1938-1950 in der Jugendfürsorge. 1955 besuchte sie erstmals seit der Auswanderung ihren Heimatort Paderborn.



Impression, September

Äste halten den Himmel vergittert
hinter den Blättern der Sykomore,
der letzten im Brachland der Seelen.
Nestgestrüppe stopfen
schwarze Knoten in das Wolkenlose.
Schwärme schmarotzender Fliegen
schwirren erregt um Gürtel
süß gegorener Feigen.
Ein Telegraphendraht zerschneidet
das endenlose Nichts zu langer Sommer
in zwei leere Ewigkeiten.
In ihnen schillert fremd der blaue Vogel
mit dem krummen Schnabel
fischefangender Jäger.
Sein harter, einsamer Ruf
kämmt lockend die dunklen
Stämme der Zypressen.




Sommerblumen

Du aber irrtest, die du wähntest, der Glutenwind des Sommers habe alle Blumen verbrannt, alle außer den Disteln. Vielleicht glaubtest du es, weil dein bildermüdes Auge zu eilig über die gelbbraunen Ebenen und Berghänge hastete auf rasender Fahrt von einer Stadt zur anderen. Jetzt da du Lärm und grellen Farben entflohst in die Stille deines abgelegenen Hauses, erkanntest du deinen Irrtum. Durch einen Totenacker der Frühlingsblumen führt dich ein schmaler Pfad zum nächsten Dorf. Dürre Blätter auf fahlen Stielen knistern noch immer den eigenen Sterbegesang, wenn dein Fuß an die ineinander verstrickten Stengel stößt oder ein seltener Lufthauch sie bewegt. Zwischen ihnen, wie unter gelben Strohschirmen vor der stechenden Sonne geschützt, öffnen die Blumen des Sommers ihre Kelche, namenlos für dich, die du sie nicht zu benennen weißt. Durch wasserlose Monate tragen sie die winzigen Blüten, ein blasses Rot, ein mattes Blau, ein leises Gelb. Mit dem spärlichen Naß frühen Nebeltaues begnügen sie sich. Sie blühen den ganzen trockenen Sommer hindurch, bis die Pflanzen des Regens, breiter und stämmiger als sie aus der Erde auftreiben und sie in dem Wust des üppigen Grüns ersticken.






Aloni
Jenny Aloni (7. September 1917 – 30. September 1993)

Sonntag, 6. September 2009

Carmen Laforet, Christopher Brookmyre

Die spanische Schriftstellerin Carmen Laforet wurde am 6. September 1921 in Barcelona geboren. Sie übersiedelte im Alter von zwei Jahren auf die Kanarischen Inseln, wo sie ihre Kindheit und Jugend zubrachte, denn ihr Vater war in Las Palmas Architekt. Sie studierte Philosophie in Barcelona und Rechtswissenschaften an der Universidad Complutense de Madrid, brach aber mit 21 Jahren ihr Studium ab. In Madrid heiratete sie den Journalisten und Literaturkritiker Manuel Cerezales, mit dem sie fünf Kinder hatte. Im Alter von 19 Jahren wurde sie schlagartig bekannt, als sie 1944 den ersten Premio Nadal für ihren Erstlingsroman Nada erhielt. Noch im selben Jahr erschienen drei Auflagen des Buches, das bis heute ein Klassiker der spanischen Nachkriegsliteratur ist. 1948 erhielt die junge Autorin dafür auch den Premio Fastenrath der Real Academia Española. 1952 publizierte sie einen weiteren Roman, La Isla y los Demonios, der auf ihrer eigenen Erfahrung auf den Kanarischen Inseln beruht. La mujer nueva (1955), in dem sie ihre „Bekehrung“ zum Katholizismus behandelt, gewann 1956 den Premio Nacional de Literatura und den Premio Menorca de Novela 1955. La Insolación (1963) sollte der erste Band einer Trilogie mit dem Titel Tres Pasos fuera del Tiempo werden. 1965 reiste sie in die USA und veröffentlichte später den Essay Mi primer viaje a USA (1981) über diese Erfahrungen; dort lernte sie außerdem den spanischen Exilschriftsteller Ramón José Sender kennen, mit dem sie einen interessanten Briefwechsel pflegte.

Aus: Nada (Übersetzt von Edith Grossman)

„One of those old horse-drawn carriages that have reappeared since the war stopped in front of me, and I took it without thinking twice, arousing the envy of a desperate man who raced after it, waving his hat.
That night I rode in the dilapidated vehicle along wide deserted streets and crossed the heart of the city, full of light at all hours, just as I wanted it to be, on a trip that to me seemed short and charged with beauty.
The carriage circled the university plaza, and I remember that the beautiful building moved me as if it were a solemn gesture of welcome.
We rode down Calle de Aribau, where my relatives lived, its plane trees full of dense green that October, and its silence vivid with the respiration of a thousand souls behind darkened balconies. The carriage wheels raised a wake of noise that reverberated in my brain. Suddenly I felt the entire contraption creaking and swaying. Then it was motionless.
“Here it is,” said the driver.
I looked up at the house where we had stopped. Rows of identical balconies with their dark wrought iron, keeping the secrets of the apartments. I looked at them and couldn’t guess which ones I’d be looking out of from now on. With a somewhat tremulous hand I gave a few coins to the watchman, and when he closed the building door behind me, with a great rattling of wrought iron and glass, I began to climb the stairs very slowly, carrying my suitcase.
Everything felt unfamiliar in my imagination; the narrow, worn mosaic steps, lit by an electric light, found no place in my memory.
In front of the apartment door I was overcome by a sudden fear of waking those people, my relatives, who were, after all, like strangers to me, and I hesitated for a while before I gave the bell a timid ring that no one responded to. My heart began to beat faster, and I rang the bell again. I heard a quavering voice:
“Coming! Coming!”
Shuffling feet and clumsy hands sliding bolts open.
Then it all seemed like a nightmare.
In front of me was a foyer illuminated by the single weak lightbulb in one of the arms of the magnificent lamp, dirty with cobwebs, that hung from the ceiling. A dark background of articles of furniture piled one on top of the other as if the household were in the middle of moving. And in the foreground the black-white blotch of a decrepit little old woman in a nightgown, a shawl thrown around her shoulders.“







Carmen_Laforet
Carmen Laforet (6. September 1921 – 28. Februar 2004)






Der schottische Schriftsteller Christopher Brookmyre wurde am 6. September 1968 in Glasgow geboren. Nach seinem 1989 abgeschlossenen Studium der englischen Literatur und Theaterwissenschaften an der Universität Glasgow arbeitete er als Journalist in London, Los Angeles und Edinburgh. Nach drei erfolglosen Anläufen wurde im Jahr 1996 sein erster Roman veröffentlicht, Quite Ugly One Morning, in dem Jack Parlabane, die Hauptfigur in 5 seiner Bücher, erstmals in Erscheinung tritt. Parlabane ist ein investigativer Journalist, der bei seinen Recherchen die Grenzen des Erlaubten sehr weit auslegt. Alle Bücher von Brookmyre sind Thriller, die mit viel Satire und schwarzem Humor gewürzt sind. Sie stehen weniger in der Tradition der britischen Krimiautoren, sondern orientieren sich eher an amerikanischen Vorbildern wie Carl Hiaasen. Die Handlung dient häufig als Aufhänger für Kritik an Politik und Gesellschaft in Großbritannien.

Aus: Quite Ugly One Morning

„Jesus fuck.’
Inspector McGregor wished there was some kind of official crime scenario checklist, just so that he could have a quick glance and confirm that he had seen it all now. He hadn't sworn at a discovery for ages, perfecting instead a resigned, fatigued expression that said, ‘Of course. How could I have possibly expected anything less?’
The kids had both moved out now. He was at college in Bristol and she was somewhere between Bombay and Bangkok, with a backpack, a dose of the runs and some nose-ringed English poof of a boyfriend. Amidst the unaccustomed calm and quiet, himself and the wife had remembered that they once actually used to like each other, and work had changed from being somewhere to escape to, to something he hurried home from.
He had done his bit for the force — worked hard, been dutiful, been honest, been dutifully dishonest when it was required of him; he was due his reward and very soon he would be getting it.
Islay. Quiet wee island, quiet wee polis station. No more of the junkie undead, no more teenage jellyhead stabbings, no more pissed-up rugby fans impaling themselves on the Scott Monument, no more tweed riots in Jenners, and, best of all, no more fucking Festival. Nothing more serious to contend with than illicit stills and the odd fight over cheating with someone else's sheep.
Bliss.
Christ. Who was he kidding? He just had to look at what was before him to realise that the day after he arrived, Islay would declare itself the latest independentstate in the new Europe and take over Ulster's mantle as the UK's number one terrorist blackspot.
The varied bouquet of smells was a delightful courtesy detail. From the overture of fresh vomit whiff that greeted you at the foot of the close stairs, through the mustique of barely cold urine on the landing, to the tear-gas, fist-in-face guard-dog of guff that savaged anyone entering the flat, it just told you how much fun this case would be.
McGregor looked grimly down at his shoes and the ends of his trousers. The postman's voluminous spew had covered the wooden floor of the doorway from wall to wall, and extended too far down the hall for him to clear it with a jump. His two-footed splash had streaked his Docs, his ankles and the yellowing skirting board. Another six inches and he'd have made it, but he hadn't been able to get a run at it because of the piss, which had flooded the floor on the close side of the doorway, diked off from the tide of gastric refugees by a draught excluder.”






brookmyre
Christopher Brookmyre (Glasgow, 6. September 1968)

Samstag, 5. September 2009

Marcel Möring, Heimito von Doderer

Der niederländische Schriftsteller Marcel Möring wurde am 5. September 1957 in Enschede geboren. Er wuchs in Assen auf und lebt heute in Rotterdam. Seine Werke wurden ausgezeichnet mit dem Geertjan-Lubberhuizen-Preis, dem AKO-Preis, der „Goldenen Eule“ und dem Flämischen Literaturpreis. „Der nächtige Ort“ wurde 2007 mit dem Bordewijk-Preis zum besten niederländischen Roman des Jahres 2006 gekürt.

Aus: Der nächtige Ort (Übersetzt von Helga van Beuningen)

… und als er hier aus dem Moor kommt nach drei Jahren Maulwurf in einem Loch nach drei Jahren fast schwarz nein braun wie ein frischer Pferdeapfel er glänzt in der Maisonne wenn die Sonne auf seine Haut scheint schimmert er wie Pferdescheiße wie ein frisch poliertes Büfett und er geht halb krumm falls man das Gehen nennen will sein Gehen und die Sonne sticht ihm in die Augen die Augen tränen von den Stichen der Sonne in seinen Augen nach drei Jahren und als er nun aus dem Moor kommt und sich aufrichtet und die Maiwolken am briefpapierblauen Himmel sieht sind da die Häuser am Smilder-Kanal der gerade Waldrand eine bleierne Mauer die etwas verbirgt was er allzugut kennt und in seinem Kopf ist nur ein Gedanke ein Gedanke aber der will bleiben ein Gedanke der klopft und pocht wie ein eiternder Finger ein Gefühl das sein Herz einschnürt seine Finger krümmen sich nur um ein Ding das er festhalten will und zerdrücken den Saft herausquetschen bis das Leben entweicht Gott …
Ein Gedanke, und das ist Rache. Er will rächen. Alles rächen. Er will den Strick der seine Hose hochhält wegreißen die Erde beiseite fegen und den gottverdammten Acker dieser gottverdammten Bauern vögeln um sich zu rächen. Die erstbeste breitbusige blonde rotbackige Bäuerin in eine Furche stoßen und während ihr Gesicht in der fetten Erde liegt und der Speichel aus ihrem Mund läuft und sich mit dem schwarzen Boden vermischt in den Arsch ficken.
Er will brandschatzend und plündernd durch Dörfer und Felder reiten und wie eine rachedurstige schwarze Gestalt auf einem fahlen Pferd dieses Land in Asche legen bis nichts bleibt als Schwefel und Pech die verkohlten Stümpfe von Häusern die rauchenden Fundamente von Bauernhöfen aufstaubende dürre Felder und gedunsene Leiber und violette Kadaver am Wegesrand.
Aber so läuft das nicht. Ein Jagdflugzeug schießt über ihn hinweg, das mit den Flügeln grüßt. Die Kennzeichen der Royal Air Force ein Schimmer von Blau und Weiß und Rot. In der Ferne schreit ein Schwein. Kinder in blauen Overalls angeln im schwarzen Wasser. Löwenzahn steht gelb am grasigen Wegrand. Ein Arbeitspferd trabt mit gebogenem Hals über eine Wiese.
Kurz vor Mittag stiehlt er ein Fahrrad, das hinter einer Scheune steht, und ohne sich nach den schreienden Knechten umzusehen, die auf dem Feld arbeiten, tritt er in die Pedale, den Kanal entlang, Richtung Stadt. Er fährt. Er fährt den langen, geraden Kanal entlang, seine einzige Erinnerung an die Jahre als Maulwurf im Loch schlägt ihm in der Jackentasche ans Bein. Er fährt. Zum erstenmal seit drei Jahren fährt er Rad, und der Wind weht ihm durch die verfilzten Locken, und seine Augen tränen, und seine Beine tun weh, und er fährt und er fährt und er fährt. Und als er sich nach einer halben Stunde der Stadt nähert, bremst er, um sich ein letztes Mal umzusehen, und das Sonnenlicht, sanftgelbweitweg, Balsam für die harten Linien der Landschaft, flutet ihm übers Gesicht und in die Augen und durch das Haar, und in der Ferne, wo das dunkle Wasser des langen Kanals am Horizont verschwindet und die Straße und das Häuserband erst blau werden und dann grau und dann verschwimmen, dort, wo er drei Jahre lang wie ein Maulwurf in einem Loch im Moor gelebt hat, wie ein Wurm in der Erde, und drei Jahre lang Erde, Moor, Torf, braunes Wasser, seine gottvergessene Seele gerochen hat, da ragt der hohe Himmel auf wie eine Mauer von sommerlichem Blau, ein Klischee von Glück und Erfolg und schönen Erinnerungen andamalsalswirnochganzjungwarenunddieweltgut, und ihm kommt die Galle hoch, eine Bitterkeit steigt auf, und zu seiner Überraschung muss er sich zur Seite beugen, um eine silbrige Schliere aus seinem leeren Magen zu kotzen, genau neben die mit Schnur zugebundenen Schuhe, ein glitzernder Salamander im Staub der Straße.“






Moring
Marcel Möring (Enschede, 5. September 1957)





Der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer wurde am 5. September 1896 in Weidlingau nahe Wien geboren. Nach einem Studium der Jurisprudenz geriet er während des 1. Weltkrieges 1916 in russische Gefangenschaft, wo er in einem sibirischen Offizierslager zu schreiben begann. Nach seiner Rückkehr 1920 nahm er das Studium (diesmal Geschichtswissenschaft) in Wien wieder auf. Mit seinem verehrten Vorbild und Wohnungsnachbar Albert Paris Gütersloh verband ihn eine langjährige Freundschaft (Der Fall Gütersloh, 1930), die sich in einer 1986 herausgegebenen Korrespondenz dokumentiert. Doderer begann seine literarische Laufbahn mit Gedichten (Gassen und Landschaft, 1923) und kurzen Erzählwerken über das Leiden der Gefangenschaft (Die Bresche, 1924). 1930 erschien sein Roman Das Geheimnis des Reichs, dem der Kriminalroman Ein Mord, den jeder begeht (1938) und Ein Umweg (1940) folgten. Am 2. Weltkrieg nahm Doderer als Hauptmann der Luftwaffe teil. Den Versuch, die Tradition des Bildungs- bzw. Familienromans zu ironisieren, ohne auf die Idee einer „Menschwerdung" des bürgerlichen Individuums zu verzichten, unternahm er in seinem ersten großen Wurf, dem bereits vor dem Krieg begonnenen Roman Die Strudelhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (1951). Der Autor selbst wollte ihn als das „Zentrum der Substanz meines Schaffens überhaupt" verstanden wissen. Er machte ihn mit einem Schlag berühmt.

Aus: Das Geheimnis des Reichs

„Dort außen Sonne und das Hinausgewürfel der Massen, die, mit zahllosen Geräuschen menschlicher Verrichtungen vermischt, gegen den Horizont regellos enteilen – nach herinnen zu aber, von irgendwo an beginnend, bin es dann ich selbst mit der Verschlossenheit und dem Purpur meines Innern.
Du schaust; was soll das alles. Ich lebe körperlich seit zweiunddreißig Jahren. Alles ist in mir eine einzige Qual und war nie anders. Sie leben. Er schaut. Du bist müde. In Ruhe betrachtet ist es – nichts.
Du gehst, und wir treffen uns. Dein Gesicht steht heran gegen mich, ein Jahr, einen Tag. Jeder Tag zerfällt in die Teile, die er gewinnt. Der Wind geht, man sieht ihn nicht, jetzt trifft er auf meine Wange, die ihn fühlt, oder auf Gebüsch, das rauscht. Einmal in diesem, einmal in jenem Zustande – und jeder ist stärker als die Übersicht über beide. – Süß, im Grauen des sinkenden Abends, vom äußersten Ende der Landschaft her, wo die Lichter zucken, die Flötenstimmen aufziehender Träume. Da setzt das Gras der Steppe an, läuft aus bis zu fernen Rändern mit dunklen Waldstreifen; gehäufelt drüben das Dorf mit Herden. Der braune Boden dürr, die Kuppen der Hügel spitz und fremd.
Die Waldberge heben sich. Der Himmel ist blau. Pferde werden an die Karren gespannt, der Stamm will mit all seinen Herden wieder wandern. Sprache mit trocken klappernden Lauten des fernen, gedehnten Ostens. In die strähnigen Mähnen der kleinen, zähen Pferde greift der Wind, der vom andern Himmelsrand her kommt, wo die Steppe mit ihren braunen Hügeln zu wandern beginnt, weit und tief in sich selbst hinein, von wo aus man auch keine Waldberge mehr sieht: da ist dieses Volk erst recht heimisch.
Die hölzerne Pflugschar in der Hand östlicher Völker, vom in die Fremde verschlagenen deutschen Bauer heimatstolz und mitleidig belächelt – und die Nöte der Schulzeit, denen das spätere
Leben so ähnlich ist; jene war in ein oder zwei Zimmern gefangen und dann weiterhin kreiselt das in Zimmern, Gassen, Menschenkreisen: nah steht ein Park, nah hängt mein Rock über der Stuhllehne.
Der Jüngling erzittert, denn die Geliebte ist ihm schon in den innersten Ring der Nähe getreten, so daß sie, riesengroß für das Auge, als Winziges doch den Horizont deckt: so auch Zorn oder Angst, als Winziges, oder die Kohlenrechnung, als Winziges.“






VonDoderer
Heimito von Doderer (5. September 1896 – 23. Dezember 1966)

Freitag, 4. September 2009

Richard Wright, Antonin Artaud

Der amerikanische Romancier und Erzähler Richard Wright wurde am 4. September 1908 in Roxie, Mississippi, geboren. 1914 zog die Familie nach Memphis. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, musste Wrights Mutter eine Arbeit als Köchin annehmen, um die Familie, neben Wright noch ein Bruder, zu versorgen. Als seine Mutter krank wurde, lebte Wright für einige Zeit in einem Waisenhaus, bis er schließlich mit Mutter und Bruder, zu seiner Großmutter nach Jackson (Mississippi) zog. In Jackson besuchte er erst eine Schule der Siebenten-Tags-Adventisten, dann eine staatliche Schule. 1924 erschien seine erste Erzählung The Voodoo of Hell’s Half Acre in einer afro-amerikanischen Zeitung. 1927 zog Wright nach Chicago, wo er als Angestellter bei der Post arbeitete. Er las während dieser Zeit viel und wurde besonders beeinflusst von den Werken des Literaturkritikers Henry Louis Mencken und des naturalistischen Romanciers Theodore Dreiser. Durch die Weltwirtschaftskrise verlor er seine Stelle und musste sich in der Folge mit Jobs durchschlagen. In dieser Zeit entstanden über den John-Reed-Club, einem den Kommunisten nahe stehenden Kulturverein, die Kontakte zur Kommunistischen Partei, in deren Organen Wright wiederholt veröffentlichte. Wright schrieb in diesen Jahren seinen ersten Roman Lawd Today, der jedoch erst postum, 1963, erschien. 1937 zog Wright nach New York, wo er Herausgeber des kommunistischen Blattes Daily Worker wurde. 1938 erschien sein erstes Buch Uncle Tom's Children, eine Sammlung von Erzählungen über den Rassismus in den Südstaaten. 1940 erschien sein Roman Native Son – allerdings in einer verstümmelten Version. Beispielsweise wurden Szenen, die die sexuellen Phantasien des schwarzen Protagonisten Bigger Thomas im Bezug auf weiße Frauen darstellten, erstmals in einer Neuausgabe 1993 gedruckt. Native Son war der erste Bestseller eines afro-amerikanischen Autors – innerhalb von drei Wochen wurden über 200.000 Exemplare verkauft. 1941 wurde am Broadway eine Bühnenversion von Native Son unter der Regie von Orson Welles aufgeführt.

Aus: A Father's Law

„He saw the dim image of the traffic cop make a right-face turn and fling out a white-gloved arm, signaling that the flow of cars from the east should stop and that those toward the south now had the right of way, and at the same instant he heard the cop's shrill whistle: Wrrrriiiiiieee . . .
Yes, that was a good rookie. He had made change-over in traffic smartly, the exact manner in which the Metropolitan Handbook for Traffic Policemen had directed. The footwork had been perfect and that impersonal look on his face certainly inspired confidence and respect. That's the way a policeman should work. Well done, Officer, he mumbled in his sleep as the officer now did a left-face turn, again flinging out his flashing white-gloved hand and sounding his whistle: Whreeeeeiiiiiee . . .
"Ruddy!"
"Hunh!"
"Ruddy! Wake up!"
Wrrrriiiiiieeeeee . . .
"Hunh? Hunh?"
"Ruddy, it's the telephone, darling!"
Wreeeiiieeeeee . . .
"Oh!"
"It's the telephone, Ruddy!"
"I'll get it, I'll get it," he mumbled, blinking his sleep-drugged eyes in the dark and fumbling with the bedcovers. He sat half up and sleep rushed over him in a wave, seeking to reclaim him. "This rush-hour traffic . . ." He sighed, his voice trailing off.
"Hunh? Ruddy, are you awake?"
"Hunh?"
"Darling, the telephone!"
Wreeeeeiiiiiii . . .
In one stride of consciousness, he conquered his sleep and pushed his feet to the floor, reached out to the bedside table and lifted the receiver. He cleared his throat and spoke professionally: "Captain Rudolph Turner, speaking."
A woman's sharp, crisp voice sang over the wire: "Ruddy, Mary Jane . . . Mary Jane Woodford."
"Yeah, Mary Jane. What is it? What's up?"
"Who is that, Ruddy?"
"Wait, Agnes. I'm trying to talk. Switch on the light."






RichardWright
Richard Wright (4. September 1908 – 28. November 1960)





Der französische Schriftsteller, Schauspieler und Bühnentheoretiker Antonin Artaud wurde am 4. September 1896 in Marseille geboren. 1920 ging er als Schauspieler nach Paris. Seine nach 1924 erschienene Lyrik ist stark vom Surrealismus beeinflusst, von dessen Theoremen er sich zwei Jahre später allerdings abwandte. Daraufhin gründete er 1926 das Théâtre Alfred Jarry, wo er neben Stücken Alfred Jarrys und Roger Vitracs auch eigene Dramen inszenierte. 1930 musste das Theater schließen. Im Nachfolgeunternehmen, dem 1933 gegründeten Théâtre de la cruauté, brachte Artaud sein Drama Les Cenci (1935) zur Aufführung, das seine Idee eines Theaters der Grausamkeit bestmöglich illustriert. Dort versuchte Artaud, mit Hilfe aller nur erdenklichen Bühneneffekte, den Betrachter ins Dramengeschehen zu involvieren und so durch die Darstellung des Schrecklichen einen quasireligiösen Selbstentblößungsprozess zu provozieren. Artauds Essay Manifeste du théâtre de la cruauté versuchte 1932, dieses magisch-antizivilisatorische Läuterungsmoment theoretisch zu beschreiben. Auch seine Schrift Le théâtre et son double (1938; Das Theater und sein Double) beeinflusste moderne Bühnenströmungen, so das Living Theatre und das absurde Theater, namentlich vor allem Arthur Adamov, Fernando Arrabal und Eugène Ionesco.

Aus: Le Pèse-Nerfs

„Et n'espérez pas que je vous nomme ce tout, en combien de parties il se divise, que je vous dise son poids, que je marche, que je me mette à discuter sur ce tout, et que, disuctant, je me perde et que je me mette ainsi sans le savoir à PENSER, - et qu'il s'éclaire, qu'il vive, qu'il se pare d'une multitude de mots, tous bien frottés de sens, tous divers, et capables de bien mettre au jour toutes les attitudes, toutes le nuances d'une très sensible et pénétrante pensée.
Ah ces états qu'on ne nomme jamais, ces situations éminentes d'âme, ah ces intervalles d'esprit, ah ces minuscules ratées qui sont le pain quotidien de mes heures, ah ce peuple fourmillant de données, - ce sont toujours les même mots qui me servent et vraiment je n'ai pas l'air de beaucoup bouger dans ma pensée, mais j'y bouge plus que vous en réalité, barbes d'ânes, cochons pertinents, maîtres du faux verbe, trousseurs de portraits, feuilletonistes, rez-de-chaussée, herbagistes, entomologistes, plaie de ma langue.
Je vous l'ai dit, que je n'ai plus ma langue, ce n'est pas une raison pour que vous persistiez, pour que vous vous obstiniez dans la langue. Allons, je serai compris dans dix ans par les gens qui feront aujourd'hui ce que vous faites.
Alors on connaîtra mes geysers, on verra mes glaces, on aura appris à dénaturer mes poisons, on décèlera mes jeux d'âmes. Alors tous mes cheveux seront coulés dans la chaux, toutes mes veines mentales, alors on percevra mon bestiaire, et ma mystique sera devenue un chapeau. Alors on verra fumer les jointures des pierres, et d'arborescents bouquets d'yeux mentaux se cristalliseront en glossaires, alors on vera choir des aérolithes de pierre, alors on verra des cordes, alors on comprendra la géométrie sans espaces, et on apprendra ce que c'est que la configuration de l'esprit, et on comprendra comment j'ai perdu l'esprit.“





Artaud
Antonin Artaud (4. September 1896 – 4. März 1948)

Donnerstag, 3. September 2009

Sergej Dovlatov, Alison Lurie

Der russische Schriftsteller Sergej Dovlatov wurde am 3. September 1941 in Ufa geboren. Nach 1945 lebte er mit seiner Familie in Leningrad (jetzt St. Petersburg). Dovlatov studierte Philologie an der Leningrader Universität, wurde aber nach zweieinhalb Jahren exmatrikuliert. Er diente in der Roten Armee in der Wache der strengen Gefängnislager in der Republik Komi. 1972-75 verdiente er sein Brot als Journalist bei der Tallinner Zeitung Sowjetisches Estland. Danach arbeitete er als touristischer Führer im Museum Puschkin nahe Pskow. Zahlreiche Versuche Dovlatovs, der Prosa schrieb, in den sowjetischen Zeitschriften zu publizieren waren vergebens. Der (Druck-)Satz seines ersten Buches wurde auf Befehl des KGB vernichtet. Nach der Veröffentlichung einiger Geschichten von Dovlatov in westlichen Zeitschriften wie Continent, Time und We 1976 wurde er aus dem Journalisten-Verband der UdSSR ausgeschlossen. 1978 verließ Dovlatov die Sowjetunion und kam mit seiner Familie nach New York, wo er später The New American, eine liberale, russischsprachige Zeitung für Immigranten mit herausgab. Mitte der achtziger Jahre erzielte Dovlatov schließlich seinen größten Erfolg als Schriftsteller, als er im angesehenen Magazin The New Yorker publizierte.

Aus: Kurz ist das Leben (Vertaald door Eric Boemer)

„Levickij öffnete die Augen und versuchte sich sofort wieder an eine Metapher zu erinnern, die er gestern vergessen hatte … »Des Vollmonds Pfefferminztablette …«? »Die krumme Banane des Halbmonds …«? Irgendwas in dieser Art, wenn auch bedeutender im Geist.
Die Metaphern kamen nachts, wenn er schon im Bett lag. Der Maestro bummelte mit den Notizen. Früher konnte er sie bis zum Morgen im Gedächtnis halten. Heute war es zur Regel geworden, dass er sie, nicht ohne ein Gefühl der Befriedigung, wieder vergaß. Die vergebene Chance eines kleinen sprachlichen Abenteuers.
Levickij richtete seinen Blick auf ein weißes, der Farbe einer Ambulanz nachgestaltetes Tischchen. Er bemerkte die gewaltige, mit dorischen Figurationen geschmückte Torte. Er begann, die dünnen, gewundenen Kerzen zu zählen.
Mein Gott, dachte Levickij, noch ein Geburtstag.
Diese Phrase war es wert, sie für die Reporter aufzusparen:
»Mein Gott! Noch ein Geburtstag! Was für eine angenehme Überraschung
– siebzig Jahre!«
Er stellte sich die Schlagzeilen vor:
»Russischer Schriftsteller feiert seinen Siebzigsten in der Fremde«. »Die Bücher des Jubilars erscheinen überall, mit Ausnahme von Moskau«. Und schließlich: »O mein Gott, ein weiterer Geburtstag!« …
Levickij duschte, zog sich an. Griff nach der Post. Die Gattin war offensichtlich in Sachen Geschenke unterwegs. Gerlinda – ein Geschöpf zwischen Verwandter und Dienstbotin – umarmte ihn. Der Maestro unterbrach sie mit den Worten:
»Du bist im Testament berücksichtigt.«
Das war ein alter Scherz zwischen ihnen.
Sie fragte:
»Tee oder Kaffee?«
»Kaffee bitte.«
»Welchen möchten sie?«
»Den braunen, wahrscheinlich.«
Dann hörte er:
»Sie werden von einer Dame erwartet.«
Schnell fragte er:
»Aber nicht die mit dem Zopf?«
»Sie hat irgendeine Rarität mitgebracht. Ich glaube – ein Buch. Sie sagte – eine Inkunabel.«
Levickij zitierte lächelnd:
»De ses mains tombe le livre,
Dans leguel elle n'avait rien lu.
(Aus ihrer Hand fiel ein ungelesenes Buch …)«
Regina Gasparjan saß seit mehr als einer Stunde in der Halle. Zum Ausgleich reichte man ihr Kaffee mit Brötchen. Nichtsdestoweniger war das ziemlich erniedrigend. Man hätte sie in den Salon bitten können. Ihre Ehrfurcht mischte sich mit beleidigtem Unbehagen.“







Dovlatov
Sergej Dovlatov (3. September 1941 – 24. August 1990)





Die amerikanische Schriftstellerin Alison Lurie wurde am 3. September 1926 in Chicago, Illinois geboren. Alison Lurie verbrachte ihre Kindheit in White Plains (New York). Sie besuchte das Radcliffe College in Cambridge (Massachusetts), wo sie 1947 den Grad eines Bachelor of Arts in den Fächern Englisch und Geschichte erlangte. 1948 heiratete sie Jonathan Peale Bishop Jr., mit dem sie drei Söhne hatte. Die Ehe wurde 1985 geschieden. Während ihrer Zeit als Hausfrau veröffentlichte sie bereits ihre ersten Romane. Von 1969 bis 1973 war sie Lektorin, von 1973 bis 1976 stellvertretende außerordentliche Professorin, von 1976 bis 1979 außerordentliche Professorin und von 1979 bis zu ihrer Emeritierung 1998 Professorin für amerikanische Literatur an der Cornell University in Ithaca, New York. Sie ist inzwischen mit dem Schriftsteller Edward Hower verheiratet. In ihrer Erzählweise und ihrem Stil ist sie häufig mit Jane Austen verglichen worden.

Aus: Familiar Spirits

„When James Merrill and I first met we didn't take to each other. If someone had told me that day that we would be friends for forty years, I would have thought they were joking.
It was the hot summer of 1950; I and my first husband, Jonathan Bishop, were in Europe on a postponed honeymoon. We had come to Austria to stay with Lynn and Ted Hoffman, who were working at the Salzburg Seminar. An acquaintance from Harvard, Claude Fredericks, was in town, too, and they arranged for all of us to have lunch and go for a swim in a nearby lake. Both Lynn and I were fond of Claude, and hoped to find the friend he was traveling with, another young poet, equally likable.
But Jimmy Merrill was a disappointment. Compared to Claude he seemed both coolly detached and awkwardly self-conscious. He was thin and pale and shortsighted, with thick black-rimmed spectacles (later he would wear contact lenses). Though only twenty-four, he was clearly already an intellectual and an aesthete. He appeared to have read everything and, worse, to be surprised at our ignorance.
The lake turned out to be a large light-struck shiny pond, mainly surrounded by woods. Fallen tree trunks littered the steep, sandy margin, and more floated offshore. The water was a clear, dark brown, and very deep; a top layer had been warmed by the sun, but below it was icy, and choked with the rubbery yellow and green straps of water weeds.
Most of us splashed about briefly and then waded out, but Jimmy stayed longer; and in spite of his weedy appearance he turned out to be a skilled swimmer. Unlike professional athletes, who often seem to be fighting the water, attacking it with violent slapping assaults and throwing off sprays of liquid shrapnel, Jimmy hardly broke the surface as he swam. The dark wet element parted smoothly for him as it might have for some long, elegant pale fish. When he finally waded out, however, he again seemed chilly and ill at ease.
As his memoir of those years declares in its title, Jimmy was A Different Person then, in both senses of the phrase. He was different from most other persons, and he was different from the person he would become. Most of us change as we age, but Jimmy changed more than most. He not only became more confident and better-looking—eventually elegantly handsome—he also became kinder, more generous, and more sympathetic. He never quite became an ordinary person, but his instinctive scorn of fools, once only half-concealed by good manners, relaxed and gave way to a detached, affectionate amusement, such as a highly civilized visitor from another planet might feel. Perhaps that is why he eventually seemed so much at home with the otherworldly beings he and David Jackson contacted through the Ouija board.”






Lurie
Alison Lurie (Chigaco, 3. September 1926)

Mittwoch, 2. September 2009

Joseph Roth, Chris Kuzneski

Der österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth wurde am 2. September 1894 als Sohn des Holz- und Getreidehändlers Nachum Roth in Brody bei Lemberg (Lwiw) geboren. Die galizische Stadt gehörte damals zur Habsburger Doppelmonarchie. Nach dem Abitur in Brody immatrikulierte Joseph Roth sich 1913 für ein Germanistikstudium an der Universität Lemberg und wechselte im Jahr darauf zur Universität Wien über. Im August 1916 kam er zum Militär, wurde aber 1917 zum Pressedienst versetzt. Sein wegen des Krieges abgebrochenes Germanistikstudium nahm Joseph Roth auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder auf. Stattdessen wurde er Journalist, zunächst bei der Wiener Zeitung "Der Neue Tag" und 1920 für verschiedene Zeitungen in Berlin. Als Feuilletonkorrespondent der "Frankfurter Zeitung" ging er 1925 nach Paris 1929 kündigte Joseph Roth bei der "Frankfurter Zeitung" und ließ sich von den "Münchner Neuesten Nachrichten" anstellen. Nach der so genannten Machtergreifung Adolf Hitlers im Januar 1933 emigrierte Joseph Roth mit seiner damaligen Lebensgefährtin Andrea Manga Bell, die er im August 1929 kennen gelernt hatte, nach Paris, wo er für Exilzeitungen und -zeitschriften schrieb. Joseph Roth war nicht nur einer der bekanntesten Journalisten der Zwanzigerjahre, sondern er ging darüber hinaus als Chronist des Zerfalls der k. u. k. Monarchie in die Literaturgeschichte ein. In mehreren Romanen ging es ihm um Menschen, die ihre Heimat und damit auch die Orientierung verloren haben.

Aus: Das Spinnennetz

“Theodor wuchs im Hause seines Vaters heran, des Bahnzollrevisors und gewesenen Wachtmeisters Wilhelm Lohse. Der kleine Theodor war ein blonder, strebsamer und gesitteter Knabe. Er hatte die Bedeutung, die er später erhielt, sehnsüchtig erhofft, aber niemals an sie zu glauben gewagt. Man kann sagen: Er übertrafdie Erwartungen, die er niemals aufsich gesetzt hatte.
Der alte Lohse erlebte die Größe seines Sohnes nicht mehr. Dem Bahnzollrevisor war nur vergönnt gewesen, Theodor in der Uniform eines Reserveleutnants zu schauen. Mehr hatte sich der Alte niemals gewünscht. Er starb im vierten Jahre des großen Krieges, und den letzten Augenblick seines Lebens verherrlichte der Gedanke, daß hinter dem Sarge der Leutnant Theodor Lohse schreiten würde.
Ein Jahr später war Theodor nicht mehr Leutnant, sondern Hörer der Rechte und Hauslehrer beim Juwelier Efrussi. Im Hause des Juweliers bekam er jeden Tag weißen Kaffee mit Haut und eine Schinkensemmel und jeden Monat ein Honorar. Es waren die Grundlagen seiner materiellen Existenz. Denn bei der Technischen Nothilfe, zu deren Mitgliedern er zählte, gab es selten Arbeit, und die seltene war hart und mäßig bezahlt. Vom wirtschaftlichen Verband der Reserveoffiziere bezog
Theodor einmal wöchentlich Hülsenfrüchte. Diese teilte er mit Mutter und Schwestern, in deren Hause er lebte, geduldet, nicht wohlgelitten, wenig beachtet und, wenn es dennoch geschah, mit Geringschätzung bedacht. Die Mutter kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht
genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein
abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen lästig. Es lebte Theodor mit den Seinigen wie ein alter Großvater, den man geehrt hätte, wenn er tot gewesen wäre, den man geringschätzt, weil er am Leben bleibt.”






Roth
Joseph Roth (2. September 1894 – 27. Mai 1939)





Der amerikanische Schrifsteller Chris Kuzneski wurde geboren in Indiana, Pennsylvania, am 2. September 1969. Er studierte Pädagogik an der University of Pittsburgh, wo er nebenbei Football spielte und für drei verschiedene Zeitungen schrieb. Eine Fußverletzung beendete seine Karriere als Football-Spieler. Bevor er begann, Romane zu schreiben, arbeitete er fünf Jahre lang als Englischlehrer

Aus: Sign Of The Cross

„Erik Jansen was about to die. He just didn’t know how. Or why.
After saying a short prayer, he lifted his head and tried to regain his bearings but couldn’t see a thing. Saltwater burned his eyes and blurred his vision. He tried to wipe his face, but his hands were bound behind him, wrapped in thick layers of rope and attached to the frame of the boat. His legs were secured as well, tied even tighter than his arms, which meant there was no hope for escape. He was at their mercy. Whoever they were.
They had grabbed him as he left his apartment and forced him into the back of a van. Very quiet, very professional. No time for him to make a scene. Within seconds they had knocked him out with a narcotic. He awakened hours later, no longer in the bustling city but on the open sea. Day was now night. His freedom was now gone. His life was nearly over.
Jansen was tempted to scream but knew that would only make things worse. These weren’t the type of men who made mistakes. He could tell. If help was nearby, they would’ve gagged him. Or cut out his tongue. Or both. No way they would’ve risked getting caught. He had known them for less than a day but knew that much. These men were professionals, hired to kill him for some ungodly reason. Now it was just a matter of time.“






Chris_Kuzneski
Chris Kuzneski (Indiana, 2. September 1969)

Dienstag, 1. September 2009

W. F. Hermans, Peter Adolphsen

Der niederländische Schriftsteller Willem Frederik Hermans wurde am 1. September 1921 in Amsterdam geboren. Hermans studierte Physische Geographie, promovierte auf diesem Gebiet und lehrte bis 1973 als ordentlicher Professor an der Universität Groningen. Während des Zweiten Weltkriegs begann Hermans zu schreiben und veröffentlichte neben mehreren Romanen Gedichte, Dramen, Erzählungen und Essays. Der Autor ist mit zahlreichen Literaturpreisen bedacht worden, die er jedoch zumeist ablehnte. Seine Werke sind in den Niederlanden Schullektüre. Hermans starb 1995 in Utrecht.

Aus: Die Tränen der Akazien (Übersetzt von Waltraud Hüsmert)

“Fast geräuschlos suchte er sein Zimmer auf und drehte von innen den Schlüssel so vorsichtig um, als wäre dieser zerbrechlich wie Eis. Gleich holen sie mich, dachte er. Trotzdem zog er sich langsam aus, hielt dabei immer wieder in der Bewegung inne und lauschte dem Geflüster im Nachbarzimmer. Das Bett knarrte nicht mehr. Der Mann flüsterte einen pausenlosen Wortschwall. Die Frau kicherte,und manchmal küßten sie einander geräuschvoll. Was gesagt wurde, konnte Rollinet nicht verstehen.
Er legte sich ins Bett. Das Flüstern wurde nun von Momenten der Stille unterbrochen.
Er schaltete das Licht nicht aus. Alle schlafen jetzt,dachte er, Carola, Andrea und sogar Arthur. Arthur ist bestimmt bei Andrea. Ich frage mich, wer von den beidenmich auslacht und wer davon überzeugt ist, daß ich allesweiß und daß es mir egal ist. Ein Mann wird nicht umsonstvierzig Jahre alt.
Im Gang knarrte es. Wie Hunde stürzten sich seine Gedanken auf die bevorstehende Verhaftung. Er richtete sichhalb auf und hörte nach ein paar Sekunden einen Knall.Das gerahmte Foto, das er aufs Bett gelegt und beim Zurückschlagen der Bettdecke übersehen hatte, war zu Bodengefallen. Nach dem Knall herrschte Stille. Stille, dachte er, holte tief Luft und legte sich wieder hin. Was für ein Leben, nichts habe ich erreicht, ich wollte alles erreichen, wie jeder Mensch; jeder kommt mit dem Gedanken auf die Welt, daß er alles erreichen will. Nur wußte ich nie genau, was das ist, »alles«. Warum wußte ich es nicht, warum? Wahrscheinlich ist es jetzt sehr bald vorbei. Ich hab’s nicht besser verdient. Das einzige in meinem Leben, von dem ich genau wußte, daß ich es wollte, war meine Heirat mitAndrea, aber in solchen Dingen hat es nicht die geringste Bedeutung, wenn man etwas genau weiß, auf das Ergebnis wirkt es sich nicht aus. Liebst du mich? Aber ja, Liebling, ich weiß es genau. Das ist das einzige, was die Menschen genau wissen, aber gerade dafür werden sie nicht belohnt.– Warum denke ich so über mein Leben nach? Weil ich vierzig bin, oder weil es mir so geht, wie es Ertrinkenden angeblich geht: Ehe sie sterben, läuft ihr ganzes Leben vor ihnen ab? Wie einfach, nach solch einem Erlebnis seine Autobiographie zu schreiben, jedenfalls wenn man in letzter Sekunde gerettet wird.
Gerettet! Wie werde ich gerettet? Sie werden an die Türklopfen. Nicht die holländischen Polizisten, nein, Deutsche. Deshalb dauert es so lange. Sie sind losgegangen, um die Deutschen zu benachrichtigen. »Polizei!«* werden sie rufen. Im Schlafanzug öffne ich die Tür. Da stehe ich neben dem zerwühlten Bett; sie pulen mich aus diesem Kabuff wie eine Schnecke aus ihrem Haus. Den Mann, der ohne Fahrkarte den Bahnhof verlassen hat. Den Mann mit den zwei Identitäten.
Aber ich kann schießen. Ja, das ist ein sicheres Ende. Ja, ich muß schießen, das ist besser als alles andere. Denn wenn ich am Leben bleibe, ist nicht nur dieser Teil meinesLebens gescheitert, sondern von vornherein alles, was noch geschehen wird, weil ich dann nur am Leben bleibe, um dasScheitern fortzusetzen.
Trotzdem machte es ihn traurig, als er an die Zukunft dachte. Nach dem Krieg: Die Straßenbeleuchtung brennt wieder, die Lokale sind geöffnet. Man kann ausgehen, essen, trinken, rauchen, man braucht vor nichts mehr Angst zuhaben. – Und ich werde nicht mehr dabei sein. Ich nicht! Ich nicht! Warum erlebe ich dann das hier, warum bin ich nicht schon längst tot!
Er stand auf und löste den Gurt eines der Koffer, fest entschlossen, zu schießen. Er brauchte seinen Revolver jedoch nicht mehr zu suchen, denn jemand kratzte leise an derTür, und die Stimme des Mädchens flüsterte: »Ich bin’s, laß mich rein.«
Er zweifelte keine Sekunde daran, daß sie kam, um ihm den Weg zum Hinterausgang zu zeigen. »Ja, warte kurz«,sagte er und zurrte den Gurt wieder fest. Dann richtete er sich auf und öffnete im Schlafanzug die Tür. Sie trat jedoch ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. In der Handhielt sie mehrere Zettel.”





Hermans
W. F. Hermans (1. September 1921 – 27. April 1995)





Der dänische Schriftsteller Peter Adolphsen (wurde am 1. September 1972 in Århus geboren. Er wuchs in Aalborg, Wien und Green Bay (Wisconsin) auf, besuchte die Nordische Schauspielschule am Theater Aarhus sowie die Forfatterskolen (Autorenakademie) in Kopenhagen. Er lebte mehrere Jahre in Spanien und hat dort, in Córdoba, unter anderem Arabistik studiert. Seit 2000 ist er freier Mitarbeiter der dänischen Tageszeitung Information. Adolphsen debütierte 1991 als Lyriker in einer von Poul Borum herausgegebenen Anthologie, bekannt wurde er jedoch durch zwei Bände Små Historier (Kleine Geschichten), die 1996 und 2000 erschienen. Obwohl sich der Autor in der Regel auf ein bis zwei Seiten beschränkt, behandelt er in seinen oftmals skurrilen und grotesken Texten existentielle Fragen der Menschheit. In der 2003 publizierten, ca. 70 Seiten umfassenden Erzählung Brummstein (Brummstein) wird auf sehr originelle Weise die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand von Literatur. Ein schwach radioaktiver Stein aus dem Höhlensystem des Hölloch in der Schweiz wandert dabei von Hand zu Hand, gelangt in den Besitz etwa eines Anarchisten, eines jüdischen Mädchens oder einer von Joseph Beuys beeinflussten Avantgarde-Künstlerin. Der Stein erlebt auf diese Weise die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg, die DDR und die westdeutsche Nachkriegszeit.

Aus: Das Herz des Urpferds (Übersetzt von Hannes Grössel)

„Unglücklicherweise stützte Jimmy sich in ebender Sekunde, als der Zerreißprozess seinen Schlusspunkt erreichte, mit gestrecktem Arm an der Rohrleitung ab. Wenige Augenblicke davor
fielen ihm die harfenartigen kleinen Geräusche von den immer schneller zerspringenden Stahldrähten
auf; er richtete seinen Blick auf die Geräuschquelle und begriff genau einen Moment zu spät, was gerade geschah. Die Trosse schwippte durch die Luft und riss seinen Arm direkt überm Ellbogen mit solcher Kraft ab, dass der Armstummel schnurrend davonflog und kreisrunde Blutspuren hinterließ, dunkelrot auf der dürren Erde.
Jimmy, der Schwerkraft und einem hypovolämischen Schock preisgegeben, sackte gegen die
Rohrleitung zusammen. Gleichzeitig, wenige Millimeter von der Stelle, an der das Blut das sonnenwarme Metall färbte, im Innern des Rohres, raste unser Öltropfen vorbei, auf dem Weg zur Raffinerie in Salt Lake City, wo er nach einer Weile im Rohöltank erst die atmosphärische und danach die Vakuumdestillation durchlief. Bei 165° Celsius wurde der größte Teil dessen, was einmal Pferdeherz war, als schweres Naphtha von dem übrigen Rohöl geschieden und von sinnreichen Rohrsystemen zur Entschwefelungsanlage geführt, die via katalytischer Hydrogenerierung aus der jetzt helleren, aber noch immer undurchsichtigen Flüssigkeit Hydrogensulfid entfernte. Die nächste Stufe der Raffination war die Reformierung in einer erhitzten Hydrogenatmosphäre über einem Katalysator aus Platin und Rhenium, der die Naphthene in Aromate umwandelte sowie einen Teil der Paraffine in Isoparaffine, während die schwereren Paraffine in kleinere Moleküle zerschlagen wurden,
wodurch sich die Oktanzahl erhöhte. Und so wurde ein weiteres Glied zur Kette der Verwandlungen
des Pferdeherzens hinzugefügt: der Zustand Benzin.
Nach langer Zeit in 10 000-gallon-Lagertanks wurde das Benzin in einen Tanklaster gefüllt und
an verschiedene Tankstellen verteilt. Unser Tropfen landete über Umwege in einer Amoco-Tankstelle
in Austin, Texas, wo er in einem unterirdischen, betonummantelten Behälter ein paar Tage Ruhe fand, ehe er via Zapfsäule und Schlauch im Benzintank eines Ford Pinto landete.“






peter_adolphsen
Peter Adolphsen (Århus, 1. September 1972)

Montag, 31. August 2009

Wolfgang Hilbig, Elizabeth von Arnim

Der deutsche Lyriker und Schriftsteller Wolfgang Hilbig wurde am 31. August 1941 in Meuselwitz geboren. Hilbigs Vater fiel im Zweiten Weltkrieg bei Stalingrad. Er wuchs danach bei seinem Großvater, einem Bergmann, auf. Nach einer Lehre als Bohrwerkdreher und dem Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee arbeitete er unter anderem als Werkzeugmacher, Monteur, Hilfsschlosser und Heizer. Hilbigs erste Versuche als Schriftsteller – seine bevorzugte Gattung war zu dieser Zeit die Lyrik – blieben in der DDR ungedruckt. In der Bundesrepublik wurde man durch einige seiner Gedichte in der Anthologie Hilferufe von drüben (1978) auf ihn aufmerksam. Sein erster Lyrikband Abwesenheit (1979) erschien im S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main, was Hilbig eine Geldstrafe wegen „Devisenvergehens“ einbrachte.Ende der 1970er Jahre gab Hilbig seine Tätigkeit als Heizer auf und arbeitete nur noch als Schriftsteller. Mit der Unterstützung Franz Fühmanns wurden 1980 erstmals einige seiner Gedichte in einer DDR-Zeitschrift gedruckt. Sein Prosaband Unterm Neomond (1982) wurde bei S. Fischer veröffentlicht. Die Lyrik- und Prosasammlung Stimme Stimme erschien 1983 bei Reclam in Leipzig, wenn auch mit sichtbaren Eingriffen der Zensur ("das meer in sachsen").
1985 erhielt Hilbig ein Visum für die Bundesrepublik, das bis 1990 gültig war. Während dieser Zeit publizierte er nicht nur weitere Erzählungen und Gedichte, sondern auch sein Romandebüt Eine Übertragung (1989), das von der Literaturkritik mehrheitlich gelobt wurde. Thema seiner Arbeiten blieb, auch über die Wende hinaus, die Doppelexistenz als Arbeiter und Schriftsteller in der DDR sowie die Suche nach Individualität


Palimpsest

Die Klage? – Sie liegt still über den Dächern im August –
wir haben sie nicht vernommen sie hat uns vernommen.
Lautlos haben sich die Tage geordnet: sie schwimmen
weit hinaus der Sommer ist entlassen aus der Macht.
Ein Sprung ein unsichtbarer Haarriss im Azur
hoch über uns: mißtönend Glas
Ein Sicheln von Zikaden
hoch über uns im verschleuderten Licht ...
vorbei das Jahrhundert mehr als hundert Jahre alt –
das Jahrhundert der Männer: am Ende verkommen
zu Neurasthenie. Der Rubikon ist überschritten!

Und bald gehört die Stadt den Stimmen unbekannter Sterne –
Der Hafen glimmt: ein Licht zur Ausfahrt angeschirrt ...
Ausfahrt unentwegt wenn das Jahr zu enden anfängt
Bei Tag und Nacht herrscht aufgeräumte Fahrt von Farben
Ausfahrt von Sonnen still über den Dächern im August
Sommers Ausfahrt all jene erbleichenden Bläuen hinab
Und über die maßlosen Wasserfälle der Horizonte hinab –
o diese Gleitbahnen der Zeit diese unsichtbaren Ränder
hoch über uns in der großen Lichtvergeudung vor Abend –
und wir allein sind festgemacht in unentwegter Flaute:
wir haben die Klage den sterblichen Göttern überlassen.



Hier ist der Hafen ohne Hoffnung auf die Wiederkehr der Schiffe –
August vorbei
o noch ein letzter Tag vor dem September
der eintrifft wie ein Abend in wüster Verstimmung
dessen Sonne noch einmal die Zwietracht von Anfängen sät –
Anfänge die in schneller Flucht durch alle Flure eilen
ein Ende suchend in der Wirrsal von Treppenhäusern ohne Mitte
vor dem Rotbraun von Brandmauern aufgetakelt mit Schrott
wo wir entmannt sind festgemacht im Staub der Etagen
und es tritt der Mond auf oben am Rand des Jahrhunderts
konturlos glimmend
ein optischer Zufall vor Nachtbeginn –
und nun hebt ein toter Baum seine Kandelaber herauf
und zündet sich an: die schwarze Explosion des September
unaufhörlich in den Hinterhöfen tief wie Brunnen ohne Widerhall.

Ach welch düsteres Geäderzeichen für das Jahrhundert –
dieser Gespensterbaum dieser entgeisterte Illuminator
der jetzt die Lichter der Sterne anbrennt vielarmig verzweigt
dem Ende des Sommers zu leuchten dem Ende der mannhaften Fahrt.
Und er schreibt seine unlesbaren Runen in den leeren Azur ...
Umschrift des Sommers
Sie bedeckt den Kurs der Männer
Löst auf der Sonne Ausgeburt entmachtet Ziel und Klage ...
Wir haben sie den Zikaden überlassen dem irren Abhub ihres Lieds –
Der Rubikon ist überschritten.



Dunstküste. Lautlos ziehn die Tage im Geleit.
Sie schwinden weit ins Offne mit dem Strom. Am Abend
Das flüchtige Gelichter der Wasser. Davor ein Baum im Rauch
Im kurzen Atem der Zikaden die sich widerrufen.
Und dann die Nacht in der wir nicht mehr sichtbar sind.







Hilbig
Wolfgang Hilbig (31. August 1941 – 2. Juni 2007)





Die englische Schriftstellerin Elizabeth von Arnim wurde als Mary Annette Beauchamp am 31. August 1866 in Sydney geboren und wuchs in England auf. Sie war eine Cousine von Katherine Mansfield und traf ihren ersten Ehemann, den preußischen Adeligen Graf Henning August von Arnim-Schlagenthin 1889 bei einer Italien-Reise; 1890 heirateten sie. Nach fünf Jahren zogen sie nach Pommern, wo Elizabeth ihren ersten Roman "Elizabeth und ihr deutscher Garten" schrieb, den sie allerdings anonym veröffentlichten mußte. Schnell wurde sie mit weiteren Romanen zur Bestsellerautorin. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs flüchetete sie nach England. Dort heiratete sie nach dem Tod ihres Ehemannes den Earl Francis Russell, Bruder von Bertrand Russell. Nur ein Jahr nach der Hochzeit verließ sie ihren zweiten Ehemann und ging in die USA, war eine Zeitlang die Geliebte von H. G. Wells, betätigte sich als Brotgeberin von E. M. Forster und starb am 9.2.1941 in South Carolina.

Aus: The Solitary Summer

„May 2nd.—Last night after dinner, when we were in the garden, I said, "I want to be alone for a whole summer, and get to the very dregs of life. I want to be as idle as I can, so that my soul may have time to grow. Nobody shall be invited to stay with me, and if any one calls they will be told that I am out, or away, or sick. I shall spend the months in the garden, and on the plain, and in the forests. I shall watch the things that happen in my garden, and see where I have made mistakes. On wet days I will go into the thickest parts of the forests, where the pine needles are everlastingly dry, and when the sun shines I'll lie on the heath and see how the broom flares against the clouds. I shall be perpetually happy, because there will be no one to worry me. Out there on the plain there is silence, and where there is silence I have discovered there is peace."
"Mind you do not get your feet damp," said the Man of Wrath, removing his cigar.
It was the evening of May Day, and the spring had taken hold of me body and soul. The sky was full of stars, and the garden of scents, and the borders of wallflowers and sweet, sly pansies. All day there had been a breeze, and all day slow masses of white clouds had been sailing across the blue. Now it was so still, so motionless, so breathless, that it seemed as though a quiet hand had been laid on the garden, soothing and hushing it into silence.
The Man of Wrath sat at the foot of the verandah steps in that placid after-dinner mood which suffers fools, if not gladly, at least indulgently, and I stood in front of him, leaning against the sun-dial.
"Shall you take a book with you?" he asked.
"Yes, I shall," I replied, slightly nettled by his tone. "I am quite ready to admit that though the fields and flowers are always ready to teach, I am not always in the mood to learn, and sometimes my eyes are incapable of seeing things that at other times are quite plain."
"And then you read?"
"And then I read. Well, dear Sage, what of that?"
But he smoked in silence, and seemed suddenly absorbed by the stars.
"See," he said, after a pause, during which I stood looking at him and wishing he would use longer sentences, and he looked at the sky and did not think about me at all, "see how bright the stars are to-night. Almost as though it might freeze."






ElisabethVonArnim
Elizabeth von Arnim (31. August 1866 – 9. Februar 1941)

Suche

 

Status

Online seit 6070 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 23. Jan, 19:14

Credits

Zufallsbild

lanoye1

Counter


Weltliteratur
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren