Paul Celan, Marcel Beyer
Der Deutsche Dichter Paul Celan (Familienname: Paul Antschel) wurde geboren am 23. November 1920 in Czernowitz in der Bukowina. Celan wuchs in einer deutschsprachig-jüdischen Familie auf und zeigte früh große sprachliche Begabung und dichterische Interessen. 1938 begann er in Frankreich ein Medizinstudium, kam dort mit der surrealistischen Poesie in Kontakt, kehrte aber nach Czernowitz zurück, um Romanistik zu studieren. 1941 wurde die Stadt von deutschen und rumänischen Truppen besetzt, die ein jüdisches Ghetto einrichteten; die Eltern wurden 1942 deportiert und starben noch im selben Jahr. Celan selbst war bis 1944 in einem Arbeitslager, konnte dann aber sein Studium wieder aufnehmen und arbeitete in Bukarest als Lektor und Übersetzer. Nach einer Zwischenstation in Wien, wo es zu einer lang nachwirkenden Begegnung mit Ingeborg Bachmann kam, ging Celan nach Paris, wo er von 1959 an als Lektor für deutsche Sprache arbeitete. Neben seinem eigenen lyrischen Werk entstanden in dieser Zeit auch bedeutende Übersetzungen, z.B. von russischer Poesie.
Auch heute abend
Voller,
da Schnee auch auf dieses
sommerdurchschwommene Meer fiel,
blüht das Eis in den Körben,
die du zur Stadt trägst.
Sand
heischst du dafür,
denn die letzte
Rose daheim
will auch heute abend gespeist sein
aus rieselnder Stunde.
Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Paul Celan (23. November 1920 – 20. April 1970)
Der deutsche Schriftsteller Marcel Beyer wurde am 23. November 1965 in Tailfingen, Baden-Württemberg geboren. Beyer wuchs in Kiel und Neuss auf. Von 1987 bis 1991 studierte er Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 erlangte er dort den Magistergrad mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Seit 1987 entstanden Performance-Arbeiten. Ab 1989 gab er an der Universität Siegen mit Karl Riha die Reihe Vergessene Autoren der Moderne heraus. Von 1990 bis 1993 arbeitete er als Lektor an der Literaturzeitschrift Konzepte mit; von 1992 bis 1998 lieferte er Beiträge für die Musikzeitschrift Spex. 1996 und 1998 war er Writer in residence am University College London und an der University of Warwick in Coventry. Im Frühjahr 2008 war er für einige Monate „Writer in Residence“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem. Marcel Beyer ist Verfasser von Lyrik, Essays und Romanen, die sich immer wieder auf eigenwillige Weise mit der deutschen Geschichte – insbesondere des Dritten Reiches – auseinandersetzen. Seit 1996 lebt Marcel Beyer in Dresden.
Aus: Kaltenburg
“Ludwig Kaltenburg wartet bis zu seinem Tod im Februar 1989 auf die Rückkehr der Dohlen. Besuchern gegenüber äußert er sich noch in seinem letzten Winter zuversichtlich, eines Tages werde ein Paar dieser von ihm geliebten, von ihm bewunderten weißäugigen Krähenvögel den Kamin im Arbeitszimmer als Nistplatz wählen und mit seiner Brut eine neue Dohlenkolonie ins Leben rufen. »Ich weiß, sie werden erst in einigen Monaten mit dem Nestbau beginnen«, erklärt er Weggefährten, Schülern oder Journalisten, die von Wien eine knappe Autostunde durch die niederösterreichische Schneelandschaft gefahren sind. Ihm stehe die Zukunft vor Augen. In eine Wolldecke gehüllt, sitzt der große Zoologe Ludwig Kaltenburg am Fenster, das Karomuster und das volle weiße Haar, er hört nur noch sehr schlecht, seine Geistesgegenwart aber hat nicht gelitten.
»Die Vögel fliehen den Rauch«, sagt er, darum halte er es nicht für ratsam, den Ofen in dem kleinen Anbau vom frühen Morgen bis in die Abendstunden brennen zu lassen. Der späte Kaltenburg wird von mehreren elektrischen Heizöfchen eingerahmt. Er ist gelöster Stimmung. »Die jungen Dohlen werden ohne mich zurechtkommen müssen, dessen bin ich mir durchaus bewußt.«
Ehe die Gäste höflich protestieren können, der hochverehrte Herr Professor werde sie am Ende alle überleben, schildert Kaltenburg den Abstieg einer sogenannten Kamindohle zu ihrem in völliger Dunkelheit liegenden Nest. Der Vogel springt nach einigem Zögern und Herumlaufen mit dem Schnabel voran in den Eingang der künstlichen Höhle, vollführt eine Drehung, findet mit abgespreizten Flügeln am rauhen Kamingemäuer Halt, streckt die Beine aus und stützt sich mit den Krallen ab. Dann geht es vorsichtig, man könnte sagen: Schritt für Schritt, hinunter in die Tiefe, zwei Meter oder mehr.“
Marcel Beyer (Tailfingen, 23. November 1965)
Auch heute abend
Voller,
da Schnee auch auf dieses
sommerdurchschwommene Meer fiel,
blüht das Eis in den Körben,
die du zur Stadt trägst.
Sand
heischst du dafür,
denn die letzte
Rose daheim
will auch heute abend gespeist sein
aus rieselnder Stunde.
Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Paul Celan (23. November 1920 – 20. April 1970)
Der deutsche Schriftsteller Marcel Beyer wurde am 23. November 1965 in Tailfingen, Baden-Württemberg geboren. Beyer wuchs in Kiel und Neuss auf. Von 1987 bis 1991 studierte er Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 erlangte er dort den Magistergrad mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Seit 1987 entstanden Performance-Arbeiten. Ab 1989 gab er an der Universität Siegen mit Karl Riha die Reihe Vergessene Autoren der Moderne heraus. Von 1990 bis 1993 arbeitete er als Lektor an der Literaturzeitschrift Konzepte mit; von 1992 bis 1998 lieferte er Beiträge für die Musikzeitschrift Spex. 1996 und 1998 war er Writer in residence am University College London und an der University of Warwick in Coventry. Im Frühjahr 2008 war er für einige Monate „Writer in Residence“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem. Marcel Beyer ist Verfasser von Lyrik, Essays und Romanen, die sich immer wieder auf eigenwillige Weise mit der deutschen Geschichte – insbesondere des Dritten Reiches – auseinandersetzen. Seit 1996 lebt Marcel Beyer in Dresden.
Aus: Kaltenburg
“Ludwig Kaltenburg wartet bis zu seinem Tod im Februar 1989 auf die Rückkehr der Dohlen. Besuchern gegenüber äußert er sich noch in seinem letzten Winter zuversichtlich, eines Tages werde ein Paar dieser von ihm geliebten, von ihm bewunderten weißäugigen Krähenvögel den Kamin im Arbeitszimmer als Nistplatz wählen und mit seiner Brut eine neue Dohlenkolonie ins Leben rufen. »Ich weiß, sie werden erst in einigen Monaten mit dem Nestbau beginnen«, erklärt er Weggefährten, Schülern oder Journalisten, die von Wien eine knappe Autostunde durch die niederösterreichische Schneelandschaft gefahren sind. Ihm stehe die Zukunft vor Augen. In eine Wolldecke gehüllt, sitzt der große Zoologe Ludwig Kaltenburg am Fenster, das Karomuster und das volle weiße Haar, er hört nur noch sehr schlecht, seine Geistesgegenwart aber hat nicht gelitten.
»Die Vögel fliehen den Rauch«, sagt er, darum halte er es nicht für ratsam, den Ofen in dem kleinen Anbau vom frühen Morgen bis in die Abendstunden brennen zu lassen. Der späte Kaltenburg wird von mehreren elektrischen Heizöfchen eingerahmt. Er ist gelöster Stimmung. »Die jungen Dohlen werden ohne mich zurechtkommen müssen, dessen bin ich mir durchaus bewußt.«
Ehe die Gäste höflich protestieren können, der hochverehrte Herr Professor werde sie am Ende alle überleben, schildert Kaltenburg den Abstieg einer sogenannten Kamindohle zu ihrem in völliger Dunkelheit liegenden Nest. Der Vogel springt nach einigem Zögern und Herumlaufen mit dem Schnabel voran in den Eingang der künstlichen Höhle, vollführt eine Drehung, findet mit abgespreizten Flügeln am rauhen Kamingemäuer Halt, streckt die Beine aus und stützt sich mit den Krallen ab. Dann geht es vorsichtig, man könnte sagen: Schritt für Schritt, hinunter in die Tiefe, zwei Meter oder mehr.“
Marcel Beyer (Tailfingen, 23. November 1965)
froumen - 23. Nov, 12:13