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Markus Werner, Mariella Mehr

Der Schweizer Schriftsteller Markus Werner wurde am 27. Dezember 1944 in Eschlikon, Kanton Thurgau) geboren. 1948 zog die Familie nach Thayngen (Kanton Schaffhausen) um. Dort besuchte Werner die Schule und absolvierte 1965 die Matura. Anschliessend studierte er Germanistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Zürich und promovierte 1974 mit einer Arbeit über Max Frisch, dessen Einfluss auf Werners Schreiben bedeutsam ist. Von 1975 bis 1985 war er Hauptlehrer, von 1985 bis 1990 Lehrbeauftragter an der Kantonsschule in Schaffhausen. Seit 1990 ist er freier Autor. Werner lebt heute in Schaffhausen.

Aus: Froschnacht

Wir leben ein paar Augenblicke und tun so rasend wichtig. Der eine braucht den Ausdruck »Schwerpunktthema«, der andre spricht von »musikalischer Umrahmung«, der dritte sagt: »Anforderungsprofil«, und solche Wörter tönen so, als würden die, die sie verwenden, ewig leben, und ich kann nicht begreifen, warum der Mund kein Schamteil ist. Wir leben ein paar Augenblicke und achten doch auf Bügelfalten, und ist ein weiches Ei zu hart, macht man Theater. Hier fehlt ein Komma! sagen wir. Und der Hürlimann nicht endlich seine Büsche stutzt! Ich steh auf Kümmel. Nicht mein Typ. Naturschwamm oder Kunststoffschwamm? Sie werden mich noch kennen lernen. Ich ziehe Schritte in Erwägung, da man beim Schweizer Radio die vierte Strophe der Jodellieder meistens abklemmt. Du, ist der Meier schwul, er trägt ein selbst gestricktes Rosa-Westchen. Wir leben ein paar Augenblicke und sind so falsch, so schwatzhaft, so himmelschreiend oberflächlich und tun die ganze Zeit die Pflicht, die Pflicht und werden dabei schlecht und dumm und grölen in der Freizeit blöd herum und vögeln ruppig. Wir haben den Mut zu nichts und Angst vor allem, wir stehen zeitig auf und tun die Pflicht und schämen uns, wenn wir mal liegen bleiben, und wären froh um eine Grippe. Die Eskapadenfreudigkeit nimmt ab, man denkt schon vor der Sünde an den Katzenjammer, uns fehlt nicht nur die Lust, uns fehlt sogar die Lust zur Lust, schon sie gilt als obszön, nicht aber der Verzicht und nicht die Pflicht und nicht die pausenlose feige Füg- und Folgsamkeit und ihre Folge, die Verblödung. Wir sind so eingeschüchtert, so elend zahm, Umgänglichkeit hat Vorrang; weil alles so komplex ist und so erfreulich relativ, sind wir von vornherein entschuldigt, wenn wir nicht dies, nicht jenes sagen, die Selbstzensur nennt man die gedankliche Behutsamkeit, und Wahrheitsangst heißt Toleranz, und selbst der zitterigste Hampelmann hat noch die Chance, als kompromissbereiter Geist zu gelten. Ist unser Gang entspannt? Er ist es nicht. Wir gehen, wie wir leben, verkrümmt, gedrückt, geknickt und linkisch. Wie wird bei uns getanzt? Getanzt wird nicht bei uns, wir hopsen höchstens. Wo ist ein seliges Gesicht, frei von Verkniffenheit, frei von Verstellung, frei von der Furcht, nicht zu gefallen? Wo bleiben die Belege, die meine Hoffnung nähren könnten, dass alle meine Nachtgedanken nur alkohol- und froschbedingte Hirngespinste sind?"






Markus Werner (Eschlikon, 27. Dezember 1944)




Die Schweizer Schriftstellerin Mariella Mehr wurde am 27. Dezember 1947 in Zürich als Angehörige des fahrenden Volkes der Jenischen geboren. Sie ist ein Opfer des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse, das jenische Kinder von ihren Eltern trennte, und wuchs in 16 Kinderheimen und drei Erziehungsanstalten auf. Viermal wurde sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, 19 Monate verbrachte sie in der Frauenstrafanstalt Hindelbank. Seit 1975 ist sie publizistisch tätig und setzt sich für Aussenseiter und unterdrückte Minderheiten ein. Für ihr Engagement erhielt sie 1998 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel. Im Jahre 2000 trat sie aus der Autorenvereinigung Gruppe Olten aus, weil diese das Ziel, „eine demokratische sozialistische Gesellschaft“ zu verwirklichen, aus dem Zweckartikel ihrer Statuten gestrichen hatte. Heute lebt Mariella Mehr in der Toskana.

Aus: Angeklagt (2002)

„Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin.
Auf diese kurze Formel gebracht, betrachte ich mein Leben als gelungen. Als vollendetes Kunstwerk, dem keine Farbschattierung fehlt und das an allen denkbaren Formen gewachsen ist. Sogar die Farben der Liebe sind darin enthalten, ob Sie es nun glauben oder nicht. Die Liebe spricht man meinesgleichen bekanntlich ab. Zu Unrecht, zu Recht, das hängt davon ab, wie Sie ein Leben betrachten.
Lassen Sie sich von meinem jugendlichen Aussehen nicht täuschen. Mein wahres Alter liegt in den Taten. Zählte man sie zusammen, und seien es auch nur die vom Gerichtsschreiber protokollierten, ergäbe das die stattliche Anzahl von einigen hundert Lebensjahren.
Als Malik verschwand, hatte ich den längsten Teil meines Lebens hinter mir, die frühen Kindheitsjahre abgerechnet, als ich noch nichts von ihrer Existenz wusste. Malik war der Zählrahmen, an dem ich meine Taten abzählte und die Jahre addierte, für die sie standen.
Malik wird wiederkommen.
Wird Malik wiederkommen?
Eine Glaubensfrage, wie fast alles, was unsereins vorwärts treibt.
Einlassen. Furchtlos. Sagen Sie.
Mein Vertrauen gewinnen. Nichts zu verlieren.
Wenn Sie wüssten, was ich zu verlieren habe. Eine Geschichte. Meine Geschichte. Mein ganzes Leben.
Malik.
Überhaupt. Spricht eine Beamtin so mit einer Delinquentin?
Malik würde es nicht gerne hören.
Also beeilen wir uns.
Bringen wir es hinter uns, für welche Variante ich mich auch entscheiden werde.
Ihre scheint klar zu sein.“





Mariella Mehr (Zürich, 27. Dezember 1947)

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Zuletzt aktualisiert: 23. Jan, 19:14

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