Hervé Guibert, Andreas Mand, Paul Eluard
Der französische Schriftsteller Hervé Guibert wurde geboren am 14. Dezember 1955 in Paris. Guibert war Fotograf und Fotokritiker bei "Le Monde". Mit Patrice Chereau schrieb er das Drehbuch zu "Der verführte Mann". Weiter schrieb er Erzählungen und einen autobiographisch gefärbten Roman ("Der Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat".) 1991 starb Hervé Guibert in Paris an Aids. Sieben Jahre dauerte die Freundschaft Guiberts mit Vincent. Sie begann, als der Junge 15 Jahre alt war, und endet, als er im Drogenrausch aus dem Fenster springt. Anhand von Zitaten aus seinem Tagebuch ruft sich der Autor in Verrückt nach Vincent die gemeinsame, wechselvolle Geschichte ins Gedächtnis zurück
Aus: Verrückt nach Vincent (Fou de Vincent, übersetzt von J. Schlegel)
“Was war es? Eine Leidenschaft? Eine Liebe? Eine erotische Zwangsvorstellung? Oder eine meiner Erfindungen? Sah im Schaufenster eines Ladens für Zaubereiartikel eine schwarze Bakelitschachtel, in Form einer fliegenden Untertasse, die über Lupen und Spiegel ein Hologramm erzeugt. Man muß ein Objekt hineinlegen, zum Beispiel ein Goldstück oder einen Ring, damit es sich auf einer transparenten Fläche im Deckel dreidimensional widerspiegelt. Man glaubt, es wegnehmen zu können, es ist aber ungreifbar. Ich komme in Versuchung, das Ding zu kaufen, um etwas darin einzuschließen, das Vincent gehört hat und das mich durch diese eigenartige Illusion an ihn erinnert, aber kein Einfall (eine Haarlocke, ein Foto) entspricht meiner Lust auf den Apparat. Allenfalls für sein Geschlechtsteil wäre dieser Reliquienschrein der rechte Platz. Ich kämme mich nie. Ich reibe mein feuchtes Haar in einem Handtuch und fahre dann mit den Fingern hindurch, um es in Form zu bringen. Gestern, ich weiß nicht, warum, hab ich den kleinen Kamm bemerkt, den mir Vincent geschenkt hat, ganz vereinsamt auf dem Brett im Badezimmer (er hat mir so selten Geschenke gemacht), ich nahm ihn, kämmte mich damit, der Kamm wurde zum magischen Gegenstand. Vincent hatte in dem Kamm seine Zauberformel hinterlassen: «Wenn du mich eines Tages brauchst – nimm den Kamm, und ich komme!»
Ich spitze die Ohren, aber das Telefon klingelt nicht. Am nächsten Morgen: Ich kämme mich wieder, vielleicht bekommt der Kamm seine Zauberkraft erst beim zweiten Gebrauch. Tags darauf kämme ich mich noch einmal: Vielleicht wirkt er erst beim dritten Mal, usf.”
Hervé Guibert (14. Dezember 1955 – 27. Dezember 1991)
Der deutsche Schriftsteller Andreas Mand wurde am 14. Dezember 1959 in Duisburg geboren. Mand veröffentlichte 1982 sein erstes Buch „Haut ab. Ein Schulaufsatz“. Seine späteren Werke sind größtenteils Romane, wobei die Gattungsbezeichnung stets locker interpretiert ist. Der (Anti-)Held des Debüts, Paul Schade, steht auch im Mittelpunkt weiterer Bücher, in Reihenfolge der Handlungszeit etwa: „Kleinstadthelden“ (1996), „Das rote Schiff“ (1994), „Paul und die Beatmaschine“ (2006) und „Vaterkind“ (2001). Die Romane Mands erschienen größtenteils in unabhängigen Verlagen. Details der abenteuerlichen Publikationsgeschichte lassen sich teilweise ihnen selbst entnehmen. Bekannt wurde Mand mit seinem Kindheits-Roman „Grovers Erfindung“ (1990), später erweitert um "Grover am See" (1992).
Aus: Kleinstadthelden
„Als ich jung war und alles wichtig war, lebte ich in einer anderen Stadt, zweieinhalb Bahnstunden von meinen Eltern entfernt. Mein Zimmer lag zur Straßenseite im ersten Stock eines schmalen Mietshauses, an einer engen, gepflasterten Straße in der Nähe der Fußgängerzone.
Es war eine Einbahnstraße, durch die nicht viele Autos fuhren, aber wenn doch, hörte man sie durch die einfachen Fensterscheiben ziemlich gut. Morgens hörte man die Anlasser der Wagen, mit denen die Anwohner zur Arbeit fuhren, und tagsüber ein untertouriges Brummen, wenn versprengte Pendler und Einkäufer den letzten freien Parkplatz suchten. Abends sangen die Kneipengänger "Olé, olé, olé" oder "Wir fahren in den Puff von Barcelona" auf dem Rückweg.
Doch all diese Geräusche waren leichter zu ertragen als das unablässige Hämmern und Kreischen von der Großbaustelle, keine 50 Meter weiter. Das Zittern des Bodens übertrug sich auf die Schaumstoffmatratze und weckte mich auf.
Ich hatte einen angenehmen Wohngefährten und ziemlich unangenehme Nachbarn. Gegenüber zum Beispiel war ein Möbelgeschäft, dessen Auslagen mein Auge genauso irritierten wie mein Äußeres den glattrasierten Besitzer und seine Frau. Solange mein Mofa vor ihrem Schaufenster parkte, führten sie richtig Krieg gegen mich. Sie beschwerten sich täglich bei der Vermieterin und gingen dazu über, wie ich natürlich nie beweisen konnte, es nachts heimlich umzukippen. Es gab keinen Hof, in das man es stellen konnte, und der Bürgersteig auf meiner Seite war höchstens einen halben Meter breit. Der Ärger hörte erst auf, als ich mir ein Fahrrad besorgte, das man immerhin in den niedrigen Keller tragen konnte.
Im Flur war kein Platz dafür, das sah ich ein, und im Grunde genommen hat die achtundsiebzigjährige Vermieterin, die im Erdgeschoß wohnte, nur durchgesetzt, was sich aus architektonischen und sozialen Gegebenheiten zwingend ergab. Drei Versprechen hatte sie mir beim Einzug abgenommen: Gardinen aufzuhängen, alle zwei Wochen die Treppe zu putzen und die Haustür auch tagsüber abzuschließen.“
Andreas Mand (Duisburg, 14. Dezember 1959)
Der französische Dichter Paul Éluard, eigentlich Eugène-Émile-Paul Grindel, wurde am 14. Dezember 1895 in Saint Denis bei Paris geboren. Er wuchs in geordneten bürgerlichen Verhältnissen auf und besuchte nach der staatlichen Volksschule die Oberschule, die er als mittelmäßiger Schüler mit 16 Jahren abschloss. Im Jahre 1927 trat er mit Louis Aragon, André Breton, Benjamin Péret und Pierre Unik der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) bei, von der er jedoch bereits 1933 wieder ausgeschlossen wurde. Zwei Jahre später lernte er den Maler Salvador Dalí kennen; seinetwegen ließ sich seine Frau Gala 1932 von ihm scheiden. Doch er schrieb ihr bis zum Ende seines Lebens Liebesbriefe. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er mit seiner 1918 geborenen Tochter Cécile in Paris. 1938 wurde Éluard aus der surrealistischen Gruppe um Breton ausgeschlossen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht ging er in den Untergrund und engagierte sich in der Résistance. 1942 trat er wieder der KPF bei und wurde zu einer Art sozialistischem Dichter-Star. Zehn Jahre später starb Éluard, inzwischen verarmt, an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris beigesetzt.
Pour vivre ici
Je fis un feu, l'azur m'ayant abandonné,
Un feu pour être, son ami,
Un feu pour m'introduire dans la nuit d'hiver
Un feu pour vivre mieux.
Je lui donnai ce que le jour m'avait donné :
Les forêts, les buissons, les champs de blé, les vignes,
Les nids et leurs oiseaux, les maisons et leurs clés,
Les insectes, les fleurs, les fourrures, les fêtes.
Je vécus au seul bruit des flammes crépitantes,
Au seul parfum de leur chaleur;
J'étais comme un bateau coulant dans l'eau fermée,
Comme un mort je n'avais qu'un unique élément.
Je te l'ai dit
Je te l'ai dit pour les nuages
Je te l'ai dit pour l'arbre de la mer
Pour chaque vague pour les oiseaux dans les feuilles
Pour les cailloux du bruit
Pour les mains familières
Pour l'oeil qui devient visage ou paysage
Et le sommeil lui rend le ciel de sa couleur
Pour toute la nuit bue
Pour la grille des routes
Pour la fenêtre ouverte pour un front découvert
Je te l'ai dit pour tes pensées pour tes paroles
Toute caresse toute confiance se survivent.
Paul Eluard (14. Dezember 1895 – 18. November 1952)
Aus: Verrückt nach Vincent (Fou de Vincent, übersetzt von J. Schlegel)
“Was war es? Eine Leidenschaft? Eine Liebe? Eine erotische Zwangsvorstellung? Oder eine meiner Erfindungen? Sah im Schaufenster eines Ladens für Zaubereiartikel eine schwarze Bakelitschachtel, in Form einer fliegenden Untertasse, die über Lupen und Spiegel ein Hologramm erzeugt. Man muß ein Objekt hineinlegen, zum Beispiel ein Goldstück oder einen Ring, damit es sich auf einer transparenten Fläche im Deckel dreidimensional widerspiegelt. Man glaubt, es wegnehmen zu können, es ist aber ungreifbar. Ich komme in Versuchung, das Ding zu kaufen, um etwas darin einzuschließen, das Vincent gehört hat und das mich durch diese eigenartige Illusion an ihn erinnert, aber kein Einfall (eine Haarlocke, ein Foto) entspricht meiner Lust auf den Apparat. Allenfalls für sein Geschlechtsteil wäre dieser Reliquienschrein der rechte Platz. Ich kämme mich nie. Ich reibe mein feuchtes Haar in einem Handtuch und fahre dann mit den Fingern hindurch, um es in Form zu bringen. Gestern, ich weiß nicht, warum, hab ich den kleinen Kamm bemerkt, den mir Vincent geschenkt hat, ganz vereinsamt auf dem Brett im Badezimmer (er hat mir so selten Geschenke gemacht), ich nahm ihn, kämmte mich damit, der Kamm wurde zum magischen Gegenstand. Vincent hatte in dem Kamm seine Zauberformel hinterlassen: «Wenn du mich eines Tages brauchst – nimm den Kamm, und ich komme!»
Ich spitze die Ohren, aber das Telefon klingelt nicht. Am nächsten Morgen: Ich kämme mich wieder, vielleicht bekommt der Kamm seine Zauberkraft erst beim zweiten Gebrauch. Tags darauf kämme ich mich noch einmal: Vielleicht wirkt er erst beim dritten Mal, usf.”
Hervé Guibert (14. Dezember 1955 – 27. Dezember 1991)
Der deutsche Schriftsteller Andreas Mand wurde am 14. Dezember 1959 in Duisburg geboren. Mand veröffentlichte 1982 sein erstes Buch „Haut ab. Ein Schulaufsatz“. Seine späteren Werke sind größtenteils Romane, wobei die Gattungsbezeichnung stets locker interpretiert ist. Der (Anti-)Held des Debüts, Paul Schade, steht auch im Mittelpunkt weiterer Bücher, in Reihenfolge der Handlungszeit etwa: „Kleinstadthelden“ (1996), „Das rote Schiff“ (1994), „Paul und die Beatmaschine“ (2006) und „Vaterkind“ (2001). Die Romane Mands erschienen größtenteils in unabhängigen Verlagen. Details der abenteuerlichen Publikationsgeschichte lassen sich teilweise ihnen selbst entnehmen. Bekannt wurde Mand mit seinem Kindheits-Roman „Grovers Erfindung“ (1990), später erweitert um "Grover am See" (1992).
Aus: Kleinstadthelden
„Als ich jung war und alles wichtig war, lebte ich in einer anderen Stadt, zweieinhalb Bahnstunden von meinen Eltern entfernt. Mein Zimmer lag zur Straßenseite im ersten Stock eines schmalen Mietshauses, an einer engen, gepflasterten Straße in der Nähe der Fußgängerzone.
Es war eine Einbahnstraße, durch die nicht viele Autos fuhren, aber wenn doch, hörte man sie durch die einfachen Fensterscheiben ziemlich gut. Morgens hörte man die Anlasser der Wagen, mit denen die Anwohner zur Arbeit fuhren, und tagsüber ein untertouriges Brummen, wenn versprengte Pendler und Einkäufer den letzten freien Parkplatz suchten. Abends sangen die Kneipengänger "Olé, olé, olé" oder "Wir fahren in den Puff von Barcelona" auf dem Rückweg.
Doch all diese Geräusche waren leichter zu ertragen als das unablässige Hämmern und Kreischen von der Großbaustelle, keine 50 Meter weiter. Das Zittern des Bodens übertrug sich auf die Schaumstoffmatratze und weckte mich auf.
Ich hatte einen angenehmen Wohngefährten und ziemlich unangenehme Nachbarn. Gegenüber zum Beispiel war ein Möbelgeschäft, dessen Auslagen mein Auge genauso irritierten wie mein Äußeres den glattrasierten Besitzer und seine Frau. Solange mein Mofa vor ihrem Schaufenster parkte, führten sie richtig Krieg gegen mich. Sie beschwerten sich täglich bei der Vermieterin und gingen dazu über, wie ich natürlich nie beweisen konnte, es nachts heimlich umzukippen. Es gab keinen Hof, in das man es stellen konnte, und der Bürgersteig auf meiner Seite war höchstens einen halben Meter breit. Der Ärger hörte erst auf, als ich mir ein Fahrrad besorgte, das man immerhin in den niedrigen Keller tragen konnte.
Im Flur war kein Platz dafür, das sah ich ein, und im Grunde genommen hat die achtundsiebzigjährige Vermieterin, die im Erdgeschoß wohnte, nur durchgesetzt, was sich aus architektonischen und sozialen Gegebenheiten zwingend ergab. Drei Versprechen hatte sie mir beim Einzug abgenommen: Gardinen aufzuhängen, alle zwei Wochen die Treppe zu putzen und die Haustür auch tagsüber abzuschließen.“
Andreas Mand (Duisburg, 14. Dezember 1959)
Der französische Dichter Paul Éluard, eigentlich Eugène-Émile-Paul Grindel, wurde am 14. Dezember 1895 in Saint Denis bei Paris geboren. Er wuchs in geordneten bürgerlichen Verhältnissen auf und besuchte nach der staatlichen Volksschule die Oberschule, die er als mittelmäßiger Schüler mit 16 Jahren abschloss. Im Jahre 1927 trat er mit Louis Aragon, André Breton, Benjamin Péret und Pierre Unik der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) bei, von der er jedoch bereits 1933 wieder ausgeschlossen wurde. Zwei Jahre später lernte er den Maler Salvador Dalí kennen; seinetwegen ließ sich seine Frau Gala 1932 von ihm scheiden. Doch er schrieb ihr bis zum Ende seines Lebens Liebesbriefe. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er mit seiner 1918 geborenen Tochter Cécile in Paris. 1938 wurde Éluard aus der surrealistischen Gruppe um Breton ausgeschlossen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht ging er in den Untergrund und engagierte sich in der Résistance. 1942 trat er wieder der KPF bei und wurde zu einer Art sozialistischem Dichter-Star. Zehn Jahre später starb Éluard, inzwischen verarmt, an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris beigesetzt.
Pour vivre ici
Je fis un feu, l'azur m'ayant abandonné,
Un feu pour être, son ami,
Un feu pour m'introduire dans la nuit d'hiver
Un feu pour vivre mieux.
Je lui donnai ce que le jour m'avait donné :
Les forêts, les buissons, les champs de blé, les vignes,
Les nids et leurs oiseaux, les maisons et leurs clés,
Les insectes, les fleurs, les fourrures, les fêtes.
Je vécus au seul bruit des flammes crépitantes,
Au seul parfum de leur chaleur;
J'étais comme un bateau coulant dans l'eau fermée,
Comme un mort je n'avais qu'un unique élément.
Je te l'ai dit
Je te l'ai dit pour les nuages
Je te l'ai dit pour l'arbre de la mer
Pour chaque vague pour les oiseaux dans les feuilles
Pour les cailloux du bruit
Pour les mains familières
Pour l'oeil qui devient visage ou paysage
Et le sommeil lui rend le ciel de sa couleur
Pour toute la nuit bue
Pour la grille des routes
Pour la fenêtre ouverte pour un front découvert
Je te l'ai dit pour tes pensées pour tes paroles
Toute caresse toute confiance se survivent.
Paul Eluard (14. Dezember 1895 – 18. November 1952)
froumen - 14. Dez, 19:11