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Friederike Mayröcker, Jürg Laederach

Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. Von 1946 bis 1969 war Mayröcker Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen und legte dazwischen ihre Externistenmatura ab. 1969 ließ sie sich als Lehrerin karenzieren und 1977 frühpensionieren. Ihr literarisches Schaffen begann sie als 15-Jährige (1939); 1946 veröffentlichte sie ihre ersten Arbeiten in der Zeitschrift Plan. Friederike Mayröcker gilt als eine der bedeutendsten österreichischen zeitgenössischen Lyrikerinnen. Erfolg hatte sie auch mit Hörspielen. Vier davon verfasste sie gemeinsam mit Ernst Jandl, mit dem sie von 1954 bis zu dessen Tod im Jahr 2000 zusammenlebte. Ihre Prosawerke werden der Kategorie "Autofiktion" zugerechnet. Sie bildet darin eine Gruppe mit Christine Lipp, Wiesbaden.

Aus: Brütt

„Es ist was die Spazierkunde angeht, alles in allem 1 spurloses Leben gewesen, nämlich im Rückblick, 1 Leben in Verheerung Mißverständnis Geistes Verdunkelung, mit dem Hirnschaber in steter Aktion, nicht wahr, sage ich zu Blum, wieso hat zB die Flasche so groß ausgesehen in der Auslage und als ich sie in die Hand nahm so winzig? diese und andere Leverkusen Wunder und Wälder seien mir zugeflogen, und während ich ins dampfende Fußbad tauche, ist es als ob in die eisige Kälte, eine Sinnesverwicklung, -verwirrung, -vernichtung, so scheint es, also 1 wehendes verwehtes VATERUNSER, weil anders firmiert, weil in andere Sprachbüschel zusammengefügt – wenn ich so Woche um Woche nicht arbeiten kann, sind Ohnmacht und Ingrimm kaum mehr auszuhalten, sage ich zu Blum, Gefühl von Pechsträhne, gebrochener Zunge, Verlorenheit, diese beleibte Passantin, sage ich zu Blum, als ankerte ihre Hüfte im Straßendunst, also dann fiel mir ein: »ihre Kruppe bewegte sich sachte durchs Menschengewühl«, usw., wie SCHNEIEN in einer Auslage, es waren aber Lichtbilder, kannst du dir das vorstellen, sage ich zu Blum. während ihre Schnute und Doppelblick..

ich meine da sitze ich im zerbrochenen Stuhl, halb wiegende Position, die Tischlocken ringeln überall hervor, die Scheinhaftigkeit dieses Daseins, ein Wehklopfen eine Wehrlosigkeit der mit den schärfsten Klingen ausgestatteten Welt gegenüber, immer mehr ins Heulen und Wehklagen versunken, und ganz kleingeseelt oder -gesellt, nein das ist keine Aufgeblasenheit in der Sprache auch nicht Blödigkeit (Gestammel) der Gefühle, es ist eigentlich mehr 1 FINGERSATZ, wenn ich mir ohne Anstrengung 9 oder 10 Dutzend Telefonnummern zu merken imstande bin, das Englische, sage ich zu Blum, das bedrückt mich, sage ich zu Blum, das Englische ist in den letzten Jahren zur (deutschen) Umgangssprache geworden, ich muß darüber reflektieren, nichts kritiklos übernehmen, da schreibt doch dieser Redakteur, sage ich zu Blum, was micht erbost, sage ich zu Blum, diese ununterbrochenen Bilder machen ihm Schwierigkeiten, die Autorin springe von einem zum anderen Bild ohne Zusammenhänge aufkommen zu lassen, etc., seit einigen Tagen Gefühl von Ungenügen in meinem Bewußtsein nämlich da sei etwas noch offen, unversorgt, am Korpus dieser Schrift, etwas blute noch, zeige Wundmale, sei nicht verheilt. Alles müsse verheilt sein, sage ich zu Blum, dann erst besäße der Text Gültigkeit und dürfe als abgeschlossen gelten, nicht wahr.“






Friederike Mayröcker (Wien, 20. Dezember 1924)






Der Schweizer Schriftsteller Jürg Laederach wurde am 20. Dezember 1945 in Basel geboren. Laederach begann nach dem Abschluss des Humanistischen Gymnasiums in Basel ein Studium der Mathematik an der ETH Zürich. Später wechselte er zur Universität Basel, wo er Romanistik, Anglistik und Musikwissenschaft studierte. 1969 hielt er sich als Stipendiat und Deutschlehrer in Paris auf; anschliessend arbeitete er ein Jahr lang als Werbetexter in Basel, wo er heute als freier Schriftsteller und Übersetzer lebt. Laederach hatte 1986/87 eine Gastdozentur für Poetik an der Universität Graz inne, 1987 war er Poet in Residence an der Universität-Gesamthochschule Essen. 1996 trennte er sich aus Protest gegen die Veröffentlichung von Peter Handkes serbienfreundlichen Texten zum Bosnienkrieg von seinem langjährigen Verlag Suhrkamp. Neben seinen literarischen Aktivitäten trat Laederach, der Saxophon, Klarinette und Klavier spielt, gelegentlich als Musiker mit der Basler Jazzformation „BIQ“ auf. Laederach ist Verfasser experimenteller Prosa sowie von Theaterstücken und Hörspielen. Daneben hat er sich als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen hervorgetan.

Werke u.a. : Einfall der Dämmerung, 1974, Ein milder Winter, 1978, Flugelmeyers Wahn, 1986, Passion, 1993, Schattenmänner, 1994, In Hackensack, 2003

Uit: Kopfschule beim Essen. Ein Stilleben

„Im Endstadium meiner schweren, schon lange Zeit körperlich sich äussernden Neurose litt ich unter dem mich abscheulich peinigenden délire d’enormité, das meine allmählich zerfallende physische Erscheinung in mir ungeheuerlich scheinende Dimensionen erweiterte. Zoll für Zoll wurde ich ein gehetzter Antipode der wahnsinnigen Mikromanischen, die sich für Schrauben hielten und ins Brett bohrten. Nicht zu reden von meinem kopfstehenden Verfolgungswahn, bei dem ich der Verfolger war, dessen linguistische Füchse auf der atemlosen Jagd aufgescheucht durcheinanderwirbelten – ich weiss, dass ihr Bau gerade ausgeräuchert wird. Griff an den Kopf, den depressiven, der sein ungelebtes Vorleben als Trauma mitschleppt. Ich sass im Gasthaus. Durch meine bei allem Verschütten arrogante Gegenwart wurde es gnadenlos auf die Stufe des Literatengasthauses gehoben. Die sozialen Verhaltensanteile meiner Instinkte waren am Schwinden. Gerade da
verlor ich, verblödend und auch organisch verblödend, weitere Körperteile, die mir im Hirn schnell nachwuchsen.
Glaubte ich, das gehe gut aus. Kaum. Dem Gasthaus fügte meine da, dort und drüben schrankenlos waltende Sprachlibido eine antipathische Servier-Tablett-Zerstörung-durchseidenohrige- Kellnerinnen zu. Das Gasthaus servierte karge, aber fettreiche Mahlzeiten an wie üblich Häftlinge, lauter Häftlinge. Sie kamen der schwarz gekleideten hochgeschlossenen, immer sitzenden, im Stehen schwankenden,
der bereits wieder sitzenden Wirtin zu Hilfe. Sie regulierten die Öfen. Sie räumten die Teller ab und zerbrachen sie dann. Zum Entstopfen drückten sie mit einer Handpumpe heisses Wasser in die Ausgüsse. Einer wollte etwas von mir, ein Häftling liess mich nicht in Ruhe. Er sah, daß ich mit dem Löffel aß, den ich aus meinem Halfter am Gürtel gezogen hatte. Ich, Grand Malade und Vollstrecker sämtlicher Testamente des Umkreises, durfte endlich die letzten Verantwortlichkeiten und Zellenerinnerungen abstreifen, um mich in die liebevollste Pflege ; anderer Wahnsinniger, viel gutmütigerer Wahnsinniger zu begeben. Ich erzähle das klar, bloß, wo war ich eben. Der Satz zerrinnt zur Pfütze. Krank bin ich nicht, denn gestern war ich schon so.“





Jürg Laederach (Basel, 20. Dezember 1945)

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Zuletzt aktualisiert: 23. Jan, 19:14

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